Weißt Du, was eine sibyllinische Begründung ist?

Unser heutiger Begriff ist mir noch nie zuvor begegnet, und ich habe keine Ahnung, was er bedeutet. Da er mir in einem Satz begegnet ist, der nur in einem größeren Kontext verständlich ist, beginnt unser heutiger Beitrag mit einem kleinen gedanklichen Ausflug.

Das ist unfassbar weit zu laufen.

Stell Dir vor, Du hast eine Familie, besitzt so gut wie nichts und leidest Hunger. Deine Situation ist so hoffnungslos, dass Du beschließt, das Land zu verlassen, in dem Du geboren wurdest und aufgewachsen bist, weil Du keinerlei Hoffnung mehr hast, dass Du hier ein Leben ohne Armut und Hunger führen kannst. Stell Dir vor, dass Du und Deine Familie für einen Weg, der laut Google Maps 88 Stunden mit dem Auto oder 54 Tage zu Fuß dauert, 17 Monate brauchst. Stell Dir vor, wie Du nach dieser unfassbar langen Reise gegenüber einem Gendarmerieposten die Worte „Ich beantrage Asyl.“ sprichst und statt Asyl zu erhalten, abgeschoben wirst.

Genau das ist laut

Cédric Herrou: Ändere deine Welt. Wie ein Bauer zum Fluchthelfer wurde

Nurah, Besay und Michel, einer Familie aus dem afrikanischen Eritrea im Februar 2017 am Gendarmerieposten Breil in Frankreich geschehen. Unser Autor schreibt:

„Zur Grenzpolizei in Menton überstellt, wurde die Familie nach Italien zurückgeschoben, mit der sibyllinischen Begründung, in dem »Zwanzigkilometerstreifen« an der Grenze könne jeder Ausländer mit »irregulärem Status« zurückgeschoben werden, ohne Rücksicht auf sein Asylgesuch.“

S. 146.
Der Tag mit dem sich endlich alles zu ändern begann.

Mit dieser Aktion hatte Cédric, der Automechaniker, der einen Olivenhain an der Grenze besitzt, auf dem er Flüchtlingen Schutz bot, den Beweis, dass die Gendarmen an der Grenze gegen den Artikel R741-2 CESEDA verstießen, es also nur theoretisch und nicht in der Wirklichkeit die Möglichkeit gab, überall in Frankreich Asyl zu beantragen.

Cédric nutzte dieses Ereignis, um erfolgreich gegen diese Praxis zu klagen, was am Ende dazu führte, dass er zeitweise auf seinem Olivenhain berechtigt war, Asyl-Anträge zu bearbeiten.

Nachdem wir nun wissen, in welchem Kontext unser heutiges Zitat steht, ist es an der Zeit, der Bedeutung unseres heutigen Begriffs mit Hilfe unseres Lexikons auf die Spur zu kommen.

Was das Lexikon sagt

Unser Lexikon kennt die Bedeutung des Begriffes sibyllinisch.

si|byl|li|nisch <Adj.> (bildungsspr.): geheimnisvoll, rätselhaft: -e Worte.

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 19, S. 2114.

Weil wir in diesem Lexikon-Eintrag nichts über die Herkunft des Begriffes erfahren, zitiere ich hier einen weiteren Lexikoneintrag, der meiner Vermutung nach etwas über die Herkunft aussagt.

Ich sage Dir eine großartige Zukunft voraus.

Si|byl|le, die; -, -n [lat. Sibylla < griech. Sibylla, in der Antike Name von weissagenden Frauen] (bildungsspr.): geheimnisvolle Wahrsagerin.

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 19, S. 2114.

Unsere sibyllinische Begründung ist also eine geheimnisvolle bzw. rätselhafte Begründung. Somit brauche ich mich also nicht zu wundern, dass ich unser Zitat nicht verstehe. Zum Glück hat Cédric angezweifelt, dass diese Begründung dem geltenden Recht entspricht, und zum Glück hat der Richter ihm recht gegeben.

Fazit

Wir wissen nun, was es mit der sibyllinischen Begründung auf sich hat. Ich bin mir sehr sicher, dass ich die Bedeutung unseres heutigen Begriffes schnell wieder vergessen werde.

Was sich dagegen dank unserer heutigen Recherche bei mir eingebrannt hat, ist, wie absurd einem Flüchtling, der mit seiner Familie über ein Jahr gebraucht hat, um nach Europa zu kommen, Anleitungen wie diese vorkommen müssen. Das Bundesamt für Flüchtlinge erwartet von Flüchtlingen, die einen Asylantrag stellen, Dinge wie eine Geburtsurkunde und Reise-Dokumente vorzulegen. Was muss in diesem Moment im Kopf des Flüchtlings vorgehen? Ich habe nichts. Ich leide Hunger. Ich bin auf der Flucht. Ich war 17 Monate unterwegs. Ich war auf meiner Reise in Lebensgefahr. Ich fürchtete mich davor, verhaftet und zurückgeschickt zu werden.  Und jetzt meint die Behörde in dem Land, in dem ich Sicherheit suche, ich hätte natürlich immer einen ordentlichen DIN A4 Hefter dabei, in dem jedes Reisedokument und all meine Unterlagen ordentlich abheftet sind. 

Schön, dass Du da bist.

Zu meiner großen Freude hat Cédric bewiesen, dass ganz normale Menschen unter enormem Einsatz in der Lage sind, Flüchtlingen zu helfen. Ich habe keine Ahnung, wie ein idealer Asylantrag aussehen könnte, aber ich bin der festen Überzeugung, dass es dem aktuellen Prozess in Deutschland massiv an Empathie mangelt. Menschen, die so lange auf der Flucht waren, sollten meiner bescheidenen Meinung nach so schnell wie möglich die Chance haben, ein geregeltes Leben zu führen. Das bedeutet in meinen Augen nicht nur, dass sie so schnell wie möglich Asyl bekommen, sondern auch, dass sie so schnell wie möglich arbeiten dürfen. Denn eine Arbeit bedeutet im Idealfall

  • Einnahmen und somit finanzielle Unabhängigkeit,
  • gesellschaftliche Anerkennung,
  • Ablenkung vom Erlebten,
  • Hoffnung,
  • Alltagsroutine (ein nach einer so langen Flucht nicht zu unterschätzender Aspekt),
  • die Möglichkeit, die Sprache des Ankunftslandes zu lernen.

In meinen Augen ist es völlig absurd, dass Menschen, die erfolgreich Asyl beantragt haben, nur eingeschränkt arbeiten dürfen und gleichzeitig zu erwarten, dass sie den ganzen Tag brav Däumchen drehen, nachdem sie monatelang traumatische Dinge erlebt haben.

3. Juni 2024
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5 minBücher
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3. Juni 2024
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  1. Holger Fischer 3. Juni 2024 at 12:33 - Reply

    Eine Sibylle ist eine Prophetin. Gemäß der griechischen Mythologie heißt die erste Sibylle Herophile. Herophile tat ihre Weissagungen unaufgefordert kund, allerdings doppeldeutig ->

    https://www.mythologie-antike.com/t1279-herophile-mythologie-prophetin-die-unaufgefordert-weissagt

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