Weißt Du, warum wir ein Gedächtnis haben?

Obwohl ich mich regelmäßig frage, warum mein Gedächtnis mich im Stich lässt, bin ich noch nie auf die Idee gekommen zu fragen, warum wir überhaupt ein Gedächtnis haben. Vielleicht lag das daran, dass ich glaubte, die Antwort zu kennen, die wie folgt lautet: „Ein Gedächtnis ist dazu da, sich Dinge zu merken und Erlebnisse exakt wiedergeben zu können.“ Schön während ich

Werner Siefer & Christian Weber: Ich. Wie wir uns selbst erfinden.

las, begann ich an der absoluten Richtigkeit meiner Antwort zu zweifeln. Unser Autor liefert viele Informationen, die die Erwartung, „Erlebnisse exakt wiedergeben zu können“, in Zweifel ziehen. An zahlreichen Beispielen zeigt er, wie leicht sich unsere Erinnerungen manipulieren lassen.

Es war so. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.

So gab es zum Beispiel ein Experiment, bei dem Probanden einen Unfall auf Video ansahen. Die erste Hälfte der Probanden wurde nach dem Anschauen des Videos mit Fehlinformationen (zum Beispiel einer falschen Farbe des Unfallwagens) zum Unfall versorgt. Die zweite Hälfte der Probanden erhielt diese Informationen nicht. Als die Probanden einige Zeit später zu dem Video befragt wurden, nannten die Probanden der ersten Gruppe vermehrt die falsche Autofarbe aus den Fehlinformationen und nicht die, die sie mit eigenen Augen im Video gesehen hatten. Eine Mehrheit der zweiten Gruppe war in der Lage, die richtige Autofarbe zu nennen.

Dieses Experiment zeigt, wie leicht sich unser Gedächtnis manipulieren lässt. Ganz offensichtlich ist es nicht perfekt darin, sich Dinge exakt zu merken. Damit stellt sich die Frage:

Warum haben wir ein Gedächtnis?

Laut unserer Autoren hat unser Gedächtnis aus evolutionärer Sicht folgende Aufgaben:

  1. Es hat die Aufgabe, uns bei unseren Entscheidungen zu helfen und diese zu rechtfertigen.
  2. Es hilft uns dabei, Probleme der Gegenwart zu lösen.
  3. Es hat die Aufgabe, uns dabei zu helfen, die Zukunft möglichst gut vorherzusehen.

Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber für mich klingen diese Aufgaben etwas zu abstrakt, um mit ihnen wirklich etwas anfangen zu können. Lass uns jeden der drei Punkte anhand eines Beispiels genauer betrachten, damit wir verstehen, was die Autoren meinen.

Unser Gedächtnis hilft uns bei Entscheidungen

Unser Gedächtnis hat evolutionär gesehen einen gigantischen Nutzen, wenn es uns hilft, uns darauf vorzubereiten, was als Nächstes passieren wird. Uns daran zu erinnern, dass Hinfallen weh tut, wird uns davon abhalten, dies absichtlich herbeizuführen. Weil wir uns an den mit dem Hinfallen verbundenen Schmerz erinnern, werden wir versuchen, es zukünftig zu vermeiden.

Unser Gedächtnis hilft uns bei Problemen der Gegenwart

Stell Dir vor, Du stehst an einer Straße, möchtest auf die andere Straßenseite und siehst, dass ein Auto auf Dich zukommt. Würdest Du die Straße überqueren, während das Auto auf Dich zukommt, oder wirst Du erst dann gehen, wenn es an Dir vorbeigefahren ist? Deine Entscheidung in diesem Moment ist abhängig von den Informationen, die Du zu den Themen Auto, Straße und Verhalten im Verkehr in Deinem Gedächtnis gespeichert hast. Wenn Du weit und breit keine Ampel siehst und das Auto schnell ist, wirst Du warten. Wenn Du an einer Ampel stehst und diese für Fußgänger grün anzeigt, wirst Du über die Straße gehen. So oder so, die Informationen in Deinem Gedächtnis werden Dir helfen, eine möglichst gute Entscheidung zu treffen.

Unser Gedächtnis hilft uns, uns auf die Zukunft vorzubereiten

An dieser Stelle entscheide ich mich bewusst für ein einfaches Beispiel. Wenn wir uns daran erinnern, dass jemand am 09.12. Geburtstag hat, dann können wir mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, dass er auch im nächsten Jahr am 09.12. Geburtstag hat.

Fazit

Ich habe an dieser Stelle nicht das Gefühl, unsere Frage abschließend beantwortet zu haben. Mein Gefühl sagt mir, dass unser Gedächtnis mehr Aufgaben hat als die drei, die unsere Autoren genannt haben. Was ich allerdings heute gelernt habe, ist, dass mein Gedächtnis aus evolutionärer Sicht perfekt ist. Ich kann mich zwar schlecht an Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern, aber die Tatsache, dass es mir gut geht, und ich mit meinen Entscheidungen in der letzten Zeit zufrieden bin, beweist wohl, dass mein Gedächtnis aus evolutionärer Sicht einen wirklich soliden Job gemacht hat.

Meine Take-Aways heute sind:

  1. Wir können den in unserem Gedächtnis gespeicherten Informationen trauen.
  2. Andere Menschen erinnern sich an dieselben Ereignisse anders.
  3. Es ist müßig, darüber zu diskutieren, wie es in Wirklichkeit war, wenn die einzig vorhandenen Daten die Erinnerungen in den Gedächtnissen verschiedener Personen sind.
  4. Es ist nicht der Job eines Gedächtnisses, Informationen aus der Vergangenheit exakt wiedergeben zu können.

Unser Gedächtnis speichert Informationen nicht einfach, es arbeitet aktiv mit ihnen. Oder um es mit den Worten unserer Autoren zu sagen: In unserem Gedächtnis werden Informationen

„redigiert, zensiert, zerschnitten, ausgeblendet und alles Verbliebene neu verknüpft, und zwar so, dass die Vergangenheit Sinn macht.“ S. 172.

22. April 2021
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Buchcover zum Beitrag
Ein Männchen mit vier Armen wirbelt 8 Bücher durch die Luft.
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4,5 min readCategories: Bücher, Wissen

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  1. Holger 11. August 2023 at 12:18 - Reply

    Herkunft vom Wort Gedächtnis: Altgriechisch Μνημοσύνη Mnēmosýnē, von μνήμη mnḗmē, deutsch = Gedächtnis, lateinisch memoria -> https://www.mythologie-antike.com/t75-mnemosyne-gottin-der-erinnerung-titanin-vom-gedachtnis

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