Können wir aus dem öffentlichen Raum wieder einen sozialen Raum machen?

Manchmal stolpere ich über Fragen, die ich nicht beantworten kann, weil ich die Frage nicht verstehe. Die Frage unseres heutigen Beitrages ist eine solche Frage. Sie stammt 1 zu 1 aus dem ersten Kapitel des Buches von

Wooow, ich verstehe nicht einmal die Frage.

Sabria David: Zeichen und Wunder. Poetische Gesellschaftsanalysen, S. 11.

Die Autorin beschreibt in diesem Kapitel eine Erfahrung mit ihrem Navigationsgerät. Sie sitzt im Auto, sie weiß genau, wohin sie möchte. Dem Navigationsgerät hat sie jedoch ihr aktuelles Ziel verschwiegen, so dass das Gerät ein anderes Ziel ansteuert. Während Sabria zu dem Ziel fährt, zu dem sie möchte, gibt das Navigationsgerät ihr Anweisungen, die sie ignoriert. Mit jedem Ignorieren berechnet das Gerät die Route neu. 

Sabria schildert ihre Gedanken während der Fahrt. Sie beschreibt die Irritation, die sie erlebt, den Impuls, den Anweisungen des Navis zu folgen, obwohl sie weiß, dass diese Anweisungen sie nicht zu dem Ziel bringen werden, zu dem sie aktuell möchte.

Dann abstrahiert die Autorin. Sie vergleicht die Situation in ihrem Auto mit der Welt, in der wir leben. In beiden Situationen gibt es alte und neue Ziele. Die neuen Ziele werden unter anderem durch die Kipppunkte im Klimawandel und dem Wachstum, das an seine Grenzen stößt, erforderlich. Doch was passiert? Wir messen die Gesundheit der Wirtschaft weiterhin in Kennzahlen wie dem Bruttosozialprodukt (BIP), das das Wachstum als etwas Gesundes ansieht. Die Automatismen, die wir über einen langen Zeitraum aufgebaut haben, stehen den erforderlichen Veränderungen im Weg.

Eines der neuen Ziele, das Sabria sieht, ist die Wandlung des öffentlichen Raumes in einen sozialen Raum. Da ich nicht verstehe, was der Unterschied zwischen den beiden Räumen ist, schauen wir uns zunächst die beiden Begriffe an, bevor wir den Versuch wagen, Sabrias Frage zu beantworten.

Was ist der öffentliche Raum?

Die Webseite der Bundeszentrale für Politische Bildung schenkt uns folgende Definition des öffentlichen Raumes:

Da draußen ist ein öffentlicher raum. Biege leicht rechts ab, um am Ziel anzukommen.

„In einem zeitgemäßen Verständnis wird öffentlicher Raum als Prozess begriffen. Dabei sind Funktion und Nutzung an gesellschaftliche Transformationsprozesse gekoppelt, die wiederum Einfluss auf Wandlung, Wahrnehmung und Gebrauch des Raums nehmen. Öffentlicher Raum wird erst durch das Verhalten der Menschen, die ihn figurativ bilden, räumlich konkret. Genutzt wird der öffentliche Raum heute sehr unterschiedlich und oft unbewusst: als Verkehrsraum, als Konsumraum, als Kommunikationsraum, als Erholungsraum etc.“

Etwas weniger abstrakt klingt das Ganze auf Wikipedia:

„Als öffentlicher Raum (auch öffentlicher Bereich) kann jede nicht umfriedete Fläche verstanden werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff meist „städtische öffentliche Räume“, also überwiegend öffentliche Plätze, Verkehrs- und Grünflächen zwischen angrenzenden privaten oder öffentlichen Gebäuden.“

Die etwas ausführlichere Definition der Bundeszentrale für Barrierefreiheit stößt in die gleiche Richtung:

„Der öffentliche Raum ist das gebaute Lebens- und Wohnumfeld außerhalb von Gebäuden und Privatgrundstücken. Als geografischer Raum ist er Teil des Sozialraums und dient der selbstverständlichen Teilnahme aller. Zum öffentlichen Raum gehören sowohl der öffentliche Verkehrsraum im Sinne von Verkehrsflächen wie Gehwege, Straßenüberquerungen, Fußgängerzonen und Plätze sowie Angebote des öffentlichen Personenverkehrs als auch der öffentlich zugängliche Freiraum wie Grünanlagen, Parks, Spielplätze, Sportflächen sowie Natur- und Kulturlandschaften.“

Der öffentliche Raum ist, wenn ich es richtig verstehe, der Raum, der keinem Individuum gehört, sondern der Allgemeinheit. Er ist der Raum, in welchem wir Menschen begegnen. Er ist der Raum, den wir nutzen, um von A nach B zu gelangen.

Was ist der soziale Raum?

So Ihr Lieben, ihr müsst jetzt mal schnell einen sozialen Raum bilden.

Auch für den sozialen Raum hält die  Bundeszentrale für politische Bildung eine Definition für uns bereit:

„Von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu entwickeltes Raumkonzept. Es dient der Darstellung und Analyse sozialer Strukturen und individueller Positionen. Im sozialen Raum lassen sich sowohl vertikale soziale Unterschiede (zwischen oben und unten) als auch horizontale Unterschiede (zum Beispiel zwischen traditionellen und modernen Wertorientierungen) abbilden. Der soziale Raum macht die Verteilungsstrukturen des gesamtgesellschaftlichen und des individuellen sozialen Kapitals (das heißt gemeinschaftsbildender Fähigkeiten und Fertigkeiten) sichtbar und erlaubt zudem, in seiner dritten, zeitlichen Dimension die Veränderungen, das heißt die Karrieren, im sozialen Raum zu zeigen.“

Auf der Webseite der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen erhalten wir die Information, dass es mehr als eine Definition für den Begriff gibt:

„Je nach Anwendungsfeld werden unterschiedliche Definitionen von Sozialraum genutzt. Die Bezeichnung Sozialraum setzt sich aus den Begriffen „Sozial“ und „Raum“ zusammen. Der Sozialraum zielt somit auf Wechselwirkungen von räumlich-geografischen und sozial-gesellschaftlichen Aspekten von Orten. In Sozialräumen begegnen sich Menschen und wirken unter Berücksichtigung des sozialen Umfeldes und der lokalen wie (infra-)strukturellen Besonderheiten zusammen.“

Auf der Webseite der Universität Weimar ist mir eine Definition begegnet, die im Kontext von Sabria in meinen Augen Sinn ergibt:

„Für uns sind Sozialräume Orte, an denen Menschen auf die eine oder andere Weise zusammen leben. Sozialräume sind von daher keine funktional zu definierenden Räume, die sich etwa von Wohnräumen, Verkehrsflächen oder wirtschaftlich genutzten Orten abgrenzen lassen. […] Dennoch sind nicht alle Orte Teil des Sozialraums eines Menschen, da viele keine soziale Bedeutung für ihn haben. […] Ausgangspunkt unseres Sozialraumverständnisses ist es, dass die Wahrnehmung und Interpretation von Räumen durch die Individuen für die Definition des Sozialraums zentral steht und der Ausgangspunkt sein muss, um beispielsweise planerisch auf die Bedürfnisse der Einzelnen eingehen zu können.“

Können wir aus dem öffentlichen Raum wieder einen sozialen Raum machen?

Zeichnung. Es ist ein Haus zu sehen, in dem es etwas zu essen geht. Davor steht eine Ameise auf 2 Hinterbeinen.
Hier gibt es etwas zu essen für Dich.

Da wir nun beide Definitionen haben, können wir uns der Beantwortung der Frage widmen. Die Frage lautet, ob wir aus funktionalen Räumen wie zum Beispiel Straßen, Parks und Bibliotheken Räume machen können, in denen Menschen zusammen und nicht nur nebeneinander leben.

In meinen Augen lautet die Antwort auf die Frage ja. Ja, mehr noch, in meinen Augen machen wir das in meiner Heimatstadt Berlin bereits an vielen Orten. Hier zwei Beispiele aus meinem persönlichen Erleben.

Beispiel 1 – Der Bäcker

Vor kurzem saß ich bei einem Bäcker und gönnte mir einen Tee, um die Wartezeit zu überbrücken, die ich mir immer wieder einhandele, weil ich lieber zu früh, als zu spät zu einem Treffen erscheine. 

Während ich lese, schreibe und mich mit einem der Inhaber unterhalte, kommen und gehen Kunden. Sie kaufen ihre Heißgetränke und ihre Backwaren. Doch dann kommt ein Mensch in den Laden, der keine Schuhe trägt. Der Mensch spricht nicht und zeigt nur auf ein Baguette. Mein Gesprächspartner steht auf, geht hinter den Tresen, nimmt ein Baguette und gibt es dem Menschen. Dieser nimmt es und geht, ohne zu zahlen. 

Ich schaue meinen Gesprächspartner an und er erklärt mir, dass dieser Mensch schon eine ganze Weile kommt und mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Drogenproblem hat. Am Anfang kam der Mensch in den Laden und brüllte so lange, bis er etwas zu essen bekam. Kurze Zeit später einigten sie sich auf die Art des „friedliches Zusammenlebens“, das ich an diesem Tag live erleben durfte.

Während ich zu den Menschen gehöre, die Obdachlose ignorieren, zählt der Bäcker zu den Menschen, die sich um dieses Thema kümmern. Der Bäcker hilft im Geheimen, denn er möchte nicht, dass sich das herumspricht. Einen Obdachlosen durchzufüttern, bekommt er finanziell ohne weiteres gewuppt, wenn plötzlich „alle“ kämen, würde das nicht mehr funktionieren.

Ohn nein, meine Lieblingshose ist kaputt.

Beispiel 2 – Das Nähcafe

Vor Kurzem war ich im Nähcafe im WerkRaum der Bezirkszentralbibliothek Pablo Neruda in Berlin. Das Nähcafe wird vom Kostümkollektiv e.V. organisiert. Ich hatte an diesem Tag 2 Ziele:

  1. Ich wollte 3 Kleidungsstücke retten, deren Nähte ihre Funktion aufgegeben hatten.
  2. Ich wollte meine Nähmaschine verschenken, die seit rund 10 Jahren im Schrank steht, weil ich nicht in der Lage bin, sie zu bedienen.

Das Nähcafe beherbergte an diesem Tag

  • 4 Nähmaschinen
  • 1 Mitglied des Kostümkollektivs
  • diverse Stoffreste und Nähmaterialien und
  • mehr als 4 Teilnehmende.

Es gab also nicht für jeden Teilnehmenden eine Nähmaschine. Doch das war gar kein Problem, denn im Rahmen der Einweisung fanden wir heraus, dass ich etwas zum Nähen dabei hatte, aber gar nicht wirklich nähen wollte und eine Juristin nähen wollte, aber nichts zum Nähen dabei hatte. Also überließ ich ihr meine Sachen. Dank einer ehemaligen Maßschneiderin, die wir immer wieder um Hilfe baten und einem später eintreffenden Informatiker, wurden an diesem Tag meine Sachen repariert. Ja, mehr noch, die drei nähten aus einem Stoffrest sogar noch eine Hülle für meine Kopfhörer. Als kleines Dankeschön erhielt die Juristin, die den größten Teil der Arbeit übernommen hatte, meine Nähmaschine und alle waren happy.

Fazit

Ja, wir können öffentliche Räume zu Sozialräumen machen. Manchmal schaffen wir das, wie das Beispiel unseres Bäckers zeigt, aus eigener Kraft, manchmal brauchen wir die Unterstützung einer staatlichen Struktur. 

Aktuell sorgen ehrenamtliche Vereine wie das Kostümkollektiv an vielen Stellen für soziale Räume. Das ist in meinen Augen nicht ideal. Menschen, die einen so wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten, sollten dafür auch etwas erhalten. Im Idealfall sollten sie sogar davon leben können. Denn wenn sie davon leben können, dann können sie mehr Zeit in diese Aktivitäten stecken. Aktivitäten, die nicht auf mehr Wachstum, sondern auf mehr Miteinander abzielen. Aktivitäten, die uns als Gesellschaft zusammenbringen. Aktivitäten, die ein Gefühl von Sicherheit erzeugen.

An dieser Stelle bin ich neugierig: Wie würdest Du Sabrias Frage beantworten? Hast Du weitere Beispiele für gelungene Sozialräume?

2. Oktober 2025
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Buchcover Sabria David Zeichen und Wunder. Poetische Gesellschaftsanalysen,
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Das Buch, das diesen Beitrag inspiriert hat, habe ich als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Das bedeutet, ich habe das Buch kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, um darüber zu schreiben.

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2. Oktober 2025
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  1. Gregor 6. Oktober 2025 at 07:32 - Reply

    Untersuchungen haben gezeigt, dass Kriminalität nicht so sehr an pathologischen Persönlichkeiten liegt, sondern seltsamerweise am Ort (denn Verbrechen treten oft stark ortsgebunden auf, will sagen, an manchen Orten passiert ganz viel und woanders fast nie was).

    Wenn man solche Orte identifiziert, hat man gute Erfahrungen damit gemacht, sie wieder schön zu machen. Zum Beispiel, indem man dort den Rasen geschnitten hält, Müll weg sammelt, alles in guten Zustand versetzt, insbesondere die Beleuchtung. Prompt gehen die Verbrechen dort zurück. Warum?

    Der Grund scheint zu sein, dass dadurch, dass dieser Ort nun wieder schöner ist, die Menschen rauskommen, zum Spielen, Feiern, Grillen, Sitzen, Lesen auf der Terrasse usw. Die Orte werden soziale Orte und „bekommen Augen“. Wenn Ärger aufkommt, gibt es Leute, die das sehen und eventuell entspannen. Zudem fühlen sich Täter:innen mehr beobachtet und sind sich mehr ihrer Selbst und ihrer Taten bewusst (als im Vergleich zu nachts ohne Beleuchtung).

    Also: wird aus dem öffentlichen ein sozialer Raum, so sinken die Verbrechen dort.

    https://www.newyorker.com/magazine/2025/06/09/unforgiving-places-jens-ludwig-book-review

    • Maria Steinberg 8. Oktober 2025 at 05:09 - Reply

      Hallo Gregor,

      vielen Dank für Deinen ergänzenden Kommentar, der diesen Beitrag sehr bereichert.

      ich wünsche Dir einen fantastischen Start in den Tag.

      Viele Grüße

      Maria

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