Leben wir heute doppelt so lange wie vor 150 Jahren?
Was verstehts Du, wenn Du folgenden Satz liest:
„Die Lebenserwartung hat sich in den letzten 150 Jahren verdoppelt.“
S. 15.
Warum frage ich Dich das? Nun, dieser Satz ist mir in
Bernd Kleine-Gunk, Stefan Lorenz Sorgner: Homo ex machina. Der Mensch von morgen
begegnet. Das zentrale Thema des Buches ist der Transhumanismus, bei dem es unter anderem darum geht, das Leben von Menschen mit Hilfe von Technik zu verlängern. Transhumanismus ist dabei keine ferne utopische Zukunftsmusik, da wir bereits heute technische Geräte wie Herzschrittmacher benutzen, um das Leben von Menschen zu verlängern. Doch das ist laut unserer Autoren nur der Anfang. In ihrem Buch führen sie zahlreiche Möglichkeiten auf, durch die die Technik das Leben von Menschen in Zukunft noch weiter verlängern könnte. Diese reichen von kleinen Robotern, die unseren Körper dabei unterstützen, Müll aus unseren Zellen zu entsorgen, bis hin zu Mind-Uploadings, bei dem der biologische Körper eines Menschen vollkommen entsorgt und durch einen Silizium basierten Körper ersetzt wird.
Um zu zeigen, dass eine deutliche Lebensverlängerung keine utopische Spinnerei, sondern längst Realität ist, führen unsere Autoren den oben zitierten Satz ins Feld. Als ich ihn zum ersten Mal las, dachte ich sofort, dass Frauen heute rund 80 Jahre alt werden und demnach vor 150 Jahren nur durchschnittlich 40 Jahre alt wurden. Doch dann hielt ich kurz inne und las den Satz noch einmal, um zu überprüfen, ob meine Vermutung stimmt. Dabei fiel mir auf, dass dem Satz nicht nur eine Quellenangabe fehlt, sondern auch Hinweise darauf, ob unsere Autoren die durchschnittliche oder die maximale Lebenserwartung meinen. Aus diesem Grund schauen wir uns diesen Satz nun etwas genauer an.
Woher stammt die Aussage?
Da unsere Autoren auf eine Quellenangabe verzichten, kann ich diese Frage nicht beantworten. Allerdings habe ich mit der Webseite des statistischen Bundesamtes eine Quelle gefunden, die bei der Betrachtung der Daten aus 1871/1881 und 2019/2021 ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass
„sich die Lebenserwartung bei Geburt bei beiden Geschlechtern mehr als verdoppelt [hat], wenn von den unterschiedlichen Gebietsständen abgesehen wird.“
So lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt
- für Männer 1871/1881 bei 35,6 Jahre und 2019/2021 bei 78,5 Jahren
- für Frauen 1871/1881 bei 38,5 Jahre und 2019/2021 83,4 Jahren.
Ich vermute, dass unsere Autoren sich auf die Daten des Statistischen Bundesamtes und damit auf die allgemeinen Sterbetafeln beziehen.
Was ist eine allgemeine Sterbetafel?
Eine erste Antwort auf diese Frage liefert das Statistische Bundesamt:
„Eine Sterbetafel ist ein demografisches Modell, das die zusammenfassende Beurteilung der Sterblichkeitsverhältnisse einer Bevölkerung unabhängig von ihrer Größe und Altersstruktur ermöglicht. Die Sterbetafel zeigt hierzu in einer nach Geschlecht getrennten Tabelle, wie viele Personen eines Ausgangsbestandes gemäß der errechneten Sterbewahrscheinlichkeiten in den einzelnen Altersjahren überleben und sterben werden. Darüber hinaus gibt die Sterbetafel Auskunft über die geschlechtsspezifische durchschnittliche Lebenserwartung in den einzelnen Altersjahren. Man unterscheidet Perioden- und Generationen- bzw. Kohortensterbetafeln.“
Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber mir hilft das Zitat nur bedingt dabei, zu verstehen, was eine Sterbetafel ist. Allerdings ist dies die beste Antwort, die mir bei meiner Recherche begegnet ist. Zum Glück können wir auf der Webseite des Statistischen Bundesamtes auch Sterbetafeln anschauen und somit besser verstehen, was es mit unserem Zitat und der folgenden Frage auf sich hat.
Was bedeutet durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt?
Laut dieser Sterbetafel lag die durchschnittliche Lebenserwartung eines Mannes bei Geburt 2019/2021 bei 78,54 Jahren. Männer, die länger als der Durchschnitt lebten und 2019/2021 bereits 80 Jahre alt waren, hatten eine durchschnittliche Lebenserwartung von 88,09 Jahren. Das bedeutet, je länger wir tatsächlich leben, desto höher ist unsere durchschnittliche Lebenserwartung.
Das ist im ersten Moment verwirrend und wird erst klar, wenn wir uns anschauen, was eine durchschnittliche Lebenserwartung ist. Die durchschnittliche Lebenserwartung beschreibt nicht die exakte Lebenserwartung eines einzelnen Menschen. Wenn ein Mensch bei der Geburt stirbt und ein anderer im Alter von 100 Jahren, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung der beiden bei 50 Jahren. In beiden Fällen liegt die Abweichung zum realen Alter bei 50 Jahren und ist damit ziemlich dramatisch.
Die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt ist geringer, weil in dieser Menge alle Menschen enthalten sind, die sterben. Die durchschnittliche Lebenserwartung im Alter von 80 Jahre ist so viel höher, weil in diesen Durchschnitt kein einziger Mensch mehr eingerechnet wird, der bereits vor seinem 80. Lebensjahr gestorben ist.
Fazit
Nein, wir leben heute nicht doppelt so lange wie vor 150 Jahren. Was sich in den letzten 150 Jahren verdoppelt hat, ist unsere Lebenserwartung. Das bedeutet, bereits 1871 wurden Frauen wie Augusta Holtz geboren, die 115 Jahre alt wurden. 1875 wurde übrigens laut Wikipedia die älteste Frau der Welt geboren. Jeanne Calment wurde stolze 122 Jahre alt. Obwohl Menschen 2019/2021 eine doppelt so hohe Lebenserwartung hatten wie 1871/1881 bedeutet das nicht automatisch, dass der älteste Mensch, der 2019/2021 geboren wurde 244 Jahre alt werden wird. Es ist dank Dingen wie dem Transhumanismus nicht ausgeschlossen, aber es ist auch kein muss.
Dinge wie
- hohe Lebensstandards,
- gute gesundheitliche Versorgung,
- Verringerung der Säuglings- und Kindersterblichkeit
haben laut dem Statistischen Bundesamt in der Vergangenheit zu einer Erhöhung der Lebenserwartung beigetragen. Welchen Einfluss der Transhumanismus auf die Lebenserwartung in 150 Jahren haben wird, vermag ich nicht zu sagen. Doch ich wage zu bezweifeln, dass es uns gelingen wird, die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt in diesem Zeitraum zu verdoppeln. Ich vermute, dass wir vielleicht die 100 Jahre reißen werden.
An dieser Stelle bin ich neugierig: Was denkst Du, wie hoch wird die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt in den Jahren 2171/2173 sein? Wird eine Lebenserwartung von 150 Jahren dann normal sein?
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In
Friederike Fabritius: Flow@Work. Gehirngerecht führen – die besten Leute gewinnen und halten
bin ich heute über einen mir bis jetzt unbekannten Punkt gestolpert, der Einfluss auf die durchschnittliche Lebensdauer haben könnte. Unsere Autorin schreibt
„Kinder, die in Ländern aufwachsen, die einen längeren Mutterschaftsurlaubs garantieren, stehen gesundheitlich besser da. Jede zusätzliche Woche an gesetzlich garantiertem Mutterschaftsurlaub korreliert mit einem 2- bis 3- prozentigen Rückgang der Kindersterblichkeit.“ S. 232.
Als Quelle für unsere Daten gibt unsere Autorin https://www.vox.com/2015/8/21/9188343/maternity-leave-united-states an. Dieser Beitrag sagt, dass die Daten aus folgender Quelle https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/12346953/ stammen. Ich habe hier nur die Zusammenfassung des wissenschaftlichen Artikels gefunden, in dieser tauchen die genannten Daten nicht auf.