Weißt Du, was eine Hybris ist?

Wenn ich Hybris höre, denke ich jedes Mal fast automatisch an eine uralte Sagengestalt mit zwei Köpfen, die einen Held wie Odysseus daran hindern möchte, seine Heldenreise zu beenden. Dann wird mir bewusst, dass dies nicht stimmen kann. So ging es mir auch, als ich folgenden Satz las:

„Angesichts der jüngsten Ereignisse [dem Leerwerden von Ortschaften und Innenstädten während der Pandemie] scheint das Kartieren verlassener (oder auch umfunktionierter) Orte so angebracht wie noch nie. Aus ihren Geschichten können wir – hoffentlich – viel lernen: über Unbeständigkeit, Konsum, Booms und Pleiten, Industrialisierung und Umwelt, die menschliche Hybris und die Unzulänglichkeiten der Erinnerung und deren Pflege.“

Die Sätze stehen bei

Travis Elborough: Atlas der vergessenen Orte, S. 8

und handeln von verlassenen Orten. Diese mögen zuweilen gruselig sein, doch antike Sagengestalten treiben sich hier nun einmal nicht herum. Es ist wieder einmal an der Zeit, unser Lexikon zu befragen, um die Bedeutung des Satzes unseres Autors in Gänze zu verstehen.

Was das Lexikon sagt

Unser Lexikon verrät uns in den folgenden beiden Einträgen nicht nur die Bedeutung unseres Begriffes, sondern auch, dass die Hybris in einem sehr weiten Sinne etwas mit Odysseus zu tun hat:

Hybris, die; – [griech. hýbris, H. u.] (bildungsspr.) Hochmut; Überheblichkeit; Vermessenheit.

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 18, S. 1156.

Hybris [grch. »Übermut«, »Stolz«, »Frevel«, »Trotz«] die, in der antiken Ethik die Selbstüberhebung des Menschen, bes. gegenüber den Göttern, deren Neid, Zorn und Verachtung sie herausforderten; ein Leitmotiv der grch. Tragödie.

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 06, S. 560.

Odysseus ist der Held einer griechischen Tragödie, der nicht davor zurückschreckt, die Götter herauszufordern. Der Satz unseres Autors hat nichts mit einer griechischen Tragödie zu tun, dafür aber mit der realen menschlichen Hybris, also mit echtem Hochmut, echter Überheblichkeit und echter Vermessenheit.

So berichtet unser Autor in seinem Buch unter anderem über das nicht vollendete Kernkraftwerk im polnischen Zarnowiec. Als die polnische Regierung 1982 beschloss, das erste polnische Kernkraftwerk zu errichten, war die ganze Welt so vermessen zu glauben, dass der Mensch die Kernkraft voll unter Kontrolle hätte. Vier Jahre später musste die Menschheit erkennen, dass dies ein Irrtum war. Die Katastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl zeigte der Welt in aller Deutlichkeit, welche Gefahren von einem vermeintlich sicheren Kernkraftwerk ausgehen können. Die Katastrophe sorgte dafür, dass der Bau des ersten polnischen Kernkraftwerkes bei der polnischen Bevölkerung Zweifel hervorrief. Dennoch wurden die Bauarbeiten nicht sofort gestoppt. Erst mit dem Fall der Berliner Mauer erhielt die polnische Bevölkerung so viel Gehör, dass die Bauarbeiten eingestellt wurden.

Fazit

Unser heutiger Begriff macht mich nachdenklich. Unser Autor hat sicherlich recht, wenn er schreibt, dass die Geschichten verlassener Orte zeigen, wie hochmütig, vermessen und überheblich Menschen sein können. Allerdings habe ich das Gefühl, dass sich die menschliche Hybris nicht allein auf verlassene Orte, sondern eher auf die ganze Welt und inzwischen auch auf den Weltraum auswirkt.

Wir haben in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten unendlich viel gelernt. Wir trotzen mit unseren Bauwerken der Physik (und verkalkulieren uns dabei manchmal), haben uns die Natur untertan gemacht, verbrauchen fossile Rohstoffe und schrecken auch vor der Vermüllung des Weltraumes nicht zurück. Wir haben die Grenzen unseres Planeten überschritten, und wir wissen es. Ich wünschte, wir könnten mit dem Finger schnippen und würden unseren Hochmut, unsere Vermessenheit und Überheblichkeit überwinden und als eine geeinte Welt darüber nachdenken, wie wir unser Leben auf dieser Erde in Zukunft besser gestalten könnten.

Gut, wir können vielleicht nicht mit dem Finger schnippen, die Welt anhalten, sie vereinen und alle Probleme lösen. Doch die gute Nachricht lautet, wir haben die Macht selbst innezuhalten und darüber nachzudenken, ob wir hochmütig, vermessen und überheblich sein wollen. Unser eigenes Verhalten zu überdenken und ggf. zu ändern mag nur ein kleiner Schritt sein, doch viele kleine Schritte führen letztendlich auch zum Ziel.