Bist Du mutig genug, den Tod neu zu denken?

CONTENTWARNUNG: Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Thema Tod.

Ich habe es hinter mir, war ganz okay.

Solange die Transhumanisten nicht herausgefunden haben, wie Menschen ewig leben, ist der Tod für jeden Menschen eine Gewissheit. In meinem Leben spielte der Tod lange Zeit keine Rolle. Der erste Tod, der mir kurz den Boden unter den Füßen wegzog, war der von Arno Fischer im Jahr 2011. Meine Mutter rief mich auf der Arbeit an und sagte mir, dass er tot ist. Ich dachte mir nichts dabei. Ich mochte Arno, aber er war ja „nur“ ein Freund meines Vaters. Also wollte ich einfach weiterarbeiten, doch mein Körper war anderer Meinung. Er wollte eine Runde trauern.

Meine persönlichste Erfahrung mit dem Tod

Während ich die Tränen für Arno binnen einer Stunde im Griff hatte, traf mich der Tod meines Vaters 2020 viel härter. Wieder war ich überrascht. Die Tatsache, dass mein Vater erst 2020 verstarb, glich einem Wunder. 9 Jahre zuvor hatte ein Arzt die Diagnose Demenz gestellt und gesagt, dass es innerhalb der nächsten 7 Jahren mit meinem Vater zu Ende gehen würde.

Doch da mein Vater sich einfach nie an Regeln hielt, bot er auch der Demenz länger die Stirn als vorgesehen. Für mich bedeutete diese Zeit, einen der für mich wichtigsten Menschen über Jahre auf Raten sterben zu sehen. Diese Zeit war schwer für mich, weil ich meinem Vater  sehr nahe stand. Auf der anderen Seite gab mir das Wissen um seinen Tod die Chance, unsere gemeinsame Restzeit so gut wie möglich zu genießen. Tatsächlich sah ich meinen Vater nach der Diagnose viel häufiger als in der Zeit davor.

Heute ist der beste Tag für einen großartigen Tag.

Vor jedem Besuch sagte ich mir nicht „Au man, heute wird er wieder ein Stückchen weniger sein als beim letzten Besuch.“, sondern „Er wird nie wieder so gut beisammen sein wie heute. Was kannst Du heute tun, um ihm den Tag zu versüßen?“

Während ich das langsame Sterben meines Vaters begleitete, starb ein anderer Mensch in meinem Umfeld, und ich ging das erste Mal in meinem Leben auf eine Beerdigung. Dabei stellte ich fest, dass deutsche Beerdigungen nicht mein Ding sind. Doch in Deutschland sind Beerdigungen genauso sicher wie der Tod. Also kümmerte ich mich lange vor dem Tag der unweigerlich kommen musste darum, alles rund um seinen Tod zu organisieren. Um nichts auf der Welt wollte ich in meiner Trauer eine Beerdigung organisieren müssen.

Als der Tag 2020 dann kam, griff ich zum Telefon, rief einen Freund meines Vaters an. Dieser Freund hatte eine andere Einstellungen zu Beerdigungen. Für ihn waren Beerdigungen ein wichtiger Teil der Trauerbewältigung, und daher war er der richtige Mensch, um sich um all das, was nun kam, zu kümmern. Ich dagegen konnte mich voll und ganz meinen Tränen und meiner Trauer widmen und diese in dem Umfeld und der Zeit bewältigen, die ich dafür brauchte.

Können wir Sterben als etwas Schönes betrachten?

In dem Buch von

Komm, lass uns eine schöne Zeit haben.

Rüdiger Standhardt: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen. Denkanstöße für einen achtsamen Umgang mit Sterben, Tod und Abschied

bin ich über den folgenden Satz gestolpert, der mich einfach nicht loslassen will:

„Ich wünsche mir so sehr, dass Sterben auch als etwas Schönes betrachtet werden kann und wir den Mut aufbringen, den Tod neu zu denken.“

S. 144.

Denn das, was unser Autor sich hier wünscht, ist das, was ich bei meinem Vater im Rahmen meiner Möglichkeiten gemacht habe. Ich habe seinen jahrelangen Sterbeprozess für ihn zu etwas Schönem gemacht, indem ich bei jedem meiner Besuche das Ziel hatte, ihm einen schönen Tag zu bereiten. Ich habe seinen Tod für mich neu gedacht und mich bewusst gegen den Besuch seiner Beerdigung entschieden.

Wie sehen ein schönes Sterben und ein neu gedachter Tod aus?

Alles klar, mit dem Demenz-Ticket erfüllen wir Dir nun endlich jeden Wunsch, den Du je hattest.

Heute kann ich etwas tun, was ich lange Zeit nicht tun konnte. Ich kann auf die letzten Jahre meines Vaters und seinen Tod zurückschauen und mir darüber Gedanken machen, wie alles verlaufen wäre, wenn es keine Grenzen gegeben hätte, die mich limitiert hätten.

In einer für mich perfekten Welt, hätte ich mit der Diagnose meines Vaters nicht vor der Aufgabe gestanden, alles rund um sein restliches Leben und um seinen Tod organisieren zu müssen. In einer perfekten Welt hätte ich mit der Diagnose auch ein goldenes Demenz -Ticket bekommen, das uns beide aus dem normalen Alltagstrott herausgenommen hätte.

Das goldene Demenz-Ticket hätte es mir ermöglicht, alle Träume meines Vaters wahr werden zu lassen. Zudem hätte es fünf Pflegepersonen meiner Wahl gegeben, die sich um meinen Vater gekümmert hätten. Ja, fünf, denn so viele braucht ein Mensch, der keinen Tagesrhythmus mehr hat und keine Minute allein gelassen werden kann, damit er nicht die Bude abfackelt, weil er nicht mehr weiß, dass eine Plastikverpackung auf einer Herdplatte ein Feuer entfachen kann und keine nahrhafte Mahlzeit als Ergebnis haben wird. Diese 5 Menschen wären mit ihm einkaufen gegangen, hätten dafür gesorgt, dass er genug Schlaf bekommt und hätten seinen Alltag organisiert.

Ich dagegen hätte die Aufgabe gehabt, all seine Wünsche wahr werden zu lassen. In meiner perfekten Welt hätte mein Vater mit der Diagnose ein freies Leben geschenkt bekommen. Er hätte sich um nichts mehr kümmern müssen. Er hätte sich jede Kamera kaufen können, die er haben wollte. Er hätte jede Reise machen können, die er machen wollte. Er hätte jederzeit jeden Freund besuchen können, den er gern besucht hätte. Er hätte auf dem Friedhof beerdigt werden können, auf dem er beerdigt werden wollte.

Eine Spiegelreflexkamera
Meine Demenz Abenteuerreise. Schön war es mit Euch.

In meiner perfekten Welt hätte ich seine Beerdigung besucht, weil deren Highlight nicht das Versenken einer Urne in der Erde gewesen wäre, sondern eine Fotoausstellung, in der all seine wahr gewordenen Wünsche zu sehen gewesen wären. Auf dieser Beerdigung wären alle Menschen gewesen, die ihm wichtig waren. Auf dieser Beerdigung hätte ich keine Beileidsbekundungen bekommen, sondern hätte mit jedem einzelnen Besucher das Leben und Vermächtnis meines Vaters gefeiert.

Fazit

Wow, das hat gut getan. Ja, das hätte ich mir für meinen Vater gewünscht. Tatsächlich wünsche ich mir das nicht nur für meinen Vater, sondern für jeden Menschen auf dieser Welt. Ich wünsche mir, dass wir aufhören, den Tod als so negativ wahrzunehmen, wie wir dies aktuell tun. Mit der Diagnose, die mein Vater erhielt, sprang ein Mechanismus an, der darauf ausgelegt war, ihm ein Überleben zu ermöglichen. Dieser Mechanismus legte dabei kaum wert auf die Lebensqualität meines Vaters. Das Ziel dieses Mechanismus ist es, sich um kranke Menschen zu kümmern.

Was ich mir wünsche, ist die Akzeptanz des Todes als Teil des Lebens. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, den Tod im Leben willkommen zu heißen, statt vor ihm davon zu laufen. Ich wünsche mir, dass wir nicht nur kranke Menschen davon befreien, sich um ihren Alltag zu kümmern. Ich wünsche mir, dass wir 30 Jahre unseres Lebens arbeiten und danach einfach das Leben in vollen Zügen genießen können, und zwar völlig unabhängig davon, ob wir in den 30 Jahren Kellner, Pfleger oder Bergbauer waren. Ich wünsche mir, dass wir im Alter von 50 Jahren einfach leben dürfen. Von da an sollte es keine Steuererklärungen und Nebenjobs mehr geben. Von da an sollte unser Einkommen geregelt sein und wir sollten tun können, was wir wollen. Statt einer Arbeit nachzugehen, können wir uns das Leben dann einfach nach unseren Vorstellungen schön machen. Wer wöllte dürfte auch arbeiten, aber nicht für ein Gehalt, sondern für die Freude, die wir empfinden, wenn wir etwas erschaffen. Ich wünsche mir, dass jeder von uns eine Bucket List (eine Liste,mit Dingen, die wir vor dem Tod noch machen wollen) haben und abhaken kann.

So, jetzt kennst Du meine Wünsche. Nun bin ich wie immer neugierig? Wie fühlt sich meine Vorstellung für Dich an? Wie sieht Deine Idealvorstellung vom Sterben und Tod aus?

22. April 2024
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Buchcover Rüdiger Standhardt: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen. Denkanstöße für einen achtsamen Umgang mit Sterben, Tod und Abschied
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Das Buch, das diesen Beitrag inspiriert hat, habe ich als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Das bedeutet, ich habe das Buch kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, um darüber zu schreiben.

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7,5 min readCategories: Bücher, Wissen

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Buchcover Rüdiger Standhardt: Die Kunst, den Tod ins Leben einzuladen. Denkanstöße für einen achtsamen Umgang mit Sterben, Tod und Abschied

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22. April 2024
Weißt Du, was die negative Kapazität ist?
Weißt Du, was eminent bedeutet?

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  1. Holger Fischer 22. April 2024 at 17:11 - Reply

    In der griechischen Mythologie wurde der Tod bereits gründlich durchdacht und in zwei Versionen unterteilt: Eine Version ist angenehm und die andere Version ist unangenehm. Ker ist die unangenehme Variante vom Tod, da wird man nämlich gewaltsam in Jenseits befördert. Die sanfte (angenehme) Variante vom Tod heißt Thanatos ->

    https://www.mythologie-antike.com/t6-thanatos-und-der-sanfte-tod

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