Sind Vorwürfe eigentlich nur getarnte Wünsche?

Heute geht es um einen Tipp, der Rednern bzw. Vortragenden dabei helfen soll, mit Kritik aus dem Publikum umzugehen. Der Tipp trägt den einprägsamen Namen „VW-Regel“ und ist mir zum ersten Mal in

Nicole Krieger: Die Gastgeber-Methode. Konferenzen, Tagungen, Veranstaltungen, Diskussionen kompetent und erfolgreich moderieren

begegnet. Die Regel stammt nicht von unserer Autorin. Sie selbst hat sie übernommen, wie sie in ihrem Buch ihren Lesern offenbart:

„Friedemann Schulz von Thun gab mir einmal bei einem Seminar die VW-Regel an die Hand. VW bedeutet Vorwürfe sind Wünsche. Will heißen, in einem noch so aggressiv formulierten Vorwurf steckt eigentlich ein Wunsch des Senders.“

S. 45.

Wenn wir unserer Autorin die Frage stellen würden,  ob Vorwürfe Wünsche sind, dann würde sie dies wahrscheinlich bejahen und uns mit ein wenig Glück anschließend erklären, wie genau die VW-Regel anzuwenden ist.

Ich persönlich mag den Gedanken, dass Vorwürfe Wünsche sind und die Regel, die uns unsere Autorin an die Hand gibt, weil diese so schön einfach ist. Was mir im Buch unserer Autorin fehlt, ist die Information, wer diese Regel erfunden hat. Aus diesem Grund gehen wir dieser Frage heute nach.

Wer hats erfunden?

Bei meiner Recherche habe ich keine Webseite gefunden, die den Erfinder der Regel benennt. Also habe ich zur Sicherheit die Künstliche Intelligenz der Suchmaschine Bing befragt und auf meine Frage

„Hallo Bing, wer ist der Erfinder der VW-Regel, die besagt, dass Vorwürfe eigentlich Wünsche sind?“

folgende Antwort erhalten

„Hallo! Der Erfinder der VW-Regel ist **Manfred Prior** ². Die VW-Regel besagt, dass hinter jedem Vorwurf ein Wunsch steckt ¹². Es ist eine einfache Erkenntnis, die uns helfen kann, besser zu kommunizieren. Wenn wir uns mit einem Vorwurf konfrontiert sehen, können wir uns daran erinnern, dass das Gegenüber eigentlich nur einen Wunsch hat. Zum Beispiel könnte der Wunsch nach mehr Unterstützung im Haushalt oder bei der Kinderbetreuung, nach mehr Nähe, mehr Zuwendung, mehr Verständnis oder nach Loyalität im Job stecken ¹. Wenn wir uns daran erinnern, können wir besser auf die Bedürfnisse des anderen eingehen und eine wertschätzende Kommunikation führen. Ich hoffe, das hilft dir weiter!

Quelle: Unterhaltung mit Bing, 2.1.2024
(1) Die VW-Regel für Führung und Alltag – Ingrid Huttary. https://offene-horizonte.de/die-vw-regel-fuer-fuehrung-und-alltag .
(2) Die VW-Regel – Komm-Klar. https://komm-klar.de/die-vw-regel/ .
(3) Wer gründete volkswagen? – AlleAntworten.de. https://alleantworten.de/wer-gruendete-volkswagen .
(4) undefined. https://www.bmev.de.“

Die Suchmaschine kommt also zu dem Schluss, dass Manfred Prior diese Regel erfunden hat. Wenn wir die Quellen sichten, die unsere künstliche Intelligenz angibt, stellen wir fest, dass die dritte und vierte Quelle nichts mit der VW-Regel zu tun haben. Die ersten beiden Quellen erwähnen sowohl die VW-Regel als auch Manfred Prior, doch keine der beiden Quellen behauptet explizit, dass dieser der Erfinder der Regel ist.

Die erste Quelle, die Bing benennt, erwähnt zu meiner großen Freude das Buch, in dem Manfred Prior diese VW-Regel vorstellt. Zu meiner großen Freude stellt der Verlag eine Leseprobe des Buches im Internet bereit, die die vollständige Einleitung des Buches enthält. Hier schreibt Manfred:

„Da es ja abgesehen von dem Vergessenen wenig Neues gibt, habe ich nicht den Anspruch, mit den MiniMax-Interventionen etwas grundsätzlich Neues vorzustellen. Viele MiniMax-Interventionen gehen zurück auf das, was ich aus Büchern von und über Milton H. Erickson, bei Steve de Shazer, von Jeffrey Zeig, Stephen und Carol Lankton, Stephen Gilligan, Ernest Rossi und meinem Hamburger Kollegen Ortwin Meiss gelernt habe.“

Manfred Prior: MiniMax Interventionen, 15 minimale Interventionen mit maximaler Wirkung, S. 13f. https://www.carl-auer.de/media/carl-auer/sample/LP/978-3-8497-0325-7.pdf

Das, was Manfred in seiner Einleitung schreibt, führt mich zu der Vermutung, dass er der Namensgeber der VW-Regel ist, nicht aber derjenige, der als erster feststellte, dass ein Vorwurf als Wunsch verstanden werden kann.

Wie wende ich die VW-Regel an?

Unsere Autorin beschreibt in ihrem Buch ein Anwendungsbeispiel für die VW-Regel. In diesem wird eine deutsche Moderatorin dafür kritisiert, dass sie die Veranstaltung an einem renommierten Schweizer Institut moderierte, obwohl sie weder Schweizerin sei noch Schweizerdeutsch beherrschen würde. Unsere Autorin sieht hinter diesem Vorwurf den Wunsch: 

„Ich höre lieber Schweizerdeutsch und wünsche mir eine Schweizer Moderatorin.“

S. 45.

In meinen Augen ist dies ein großartiges Beispiel für die Regel. Nun bin ich natürlich gespannt, ob diese Regel auch in anderen Situationen funktioniert. Also habe ich im Internet nach 3 weiteren Vorwürfen gesucht, die sich mit Hilfe der VW-Regel in Wünsche verwandeln lassen:

1. Die Webseite komm klar verrät uns, dass hinter dem Vorwurf: „Man kann Sie ja nie erreichen!!!“ der Wunsch steckt „Ich hätte Sie dringend sprechen müssen.“
2. Die Webseite offene Horizonte nennt unter anderem den Vorwurf „Immer lässt du alles rumstehen.“. Aus diesem lässt sich sehr einfach der Wunsch ableiten: „Ich wünsche mir, dass Du Dinge nicht rumstehen lässt, sondern wegräumst.“
3. Die Webseite Neue Wege wagen sieht hinter dem Vorwurf „Gestern hast du schon wieder den Müll nicht rausgebracht.“ den Wunsch „Bringe bitte (wie vereinbart), den Müll raus, wenn der Beutel voll ist.

Fazit

Ja, unsere Beispiele haben gezeigt, dass Vorwürfe definitiv getarnte Wünsche sein können. Ich bin mir nicht sicher, ob jeder Vorwurf einen Wunsch enthält. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Kommunikation zwischen Menschen entspannt, wenn Vorwürfe als Wünsche wahrgenommen werden.

An dieser Stelle bin ich neugierig: Funktioniert die VW-Regel auch für Dich? Hinter welchen Vorwürfe kannst Du leicht einen Wunsch erkennen? Hinter welchen Vorwürfen lässt sich für Dich nur schwer ein Wunsch erkennen?