Weißt Du, was katilinarisch ist?
Bevor ich 2024 das Bücherfest in Berlin besuchte, war mir der Autor des Buches, in dem mir unser heutiger Begriff zum ersten Mal begegnet ist, völlig unbekannt. Zum Glück verriet mir Martin Regenbrecht, der Verleger des Buches, dass Girolamo Cardano ein Wissenschaftler der Renaissance und der Namensgeber der Kardanwelle ist. Ich bin zwar nicht im Stande zu erklären, was genau eine Kardanwelle macht, aber ich weiß, dass diese in Autos verbaut wird. Dank dieser Informationen hatte Martin meine volle Aufmerksamkeit und ich entschied mich das Buch von
Girolamo Cardano: Leben des Girolamo Cardano von ihm selbst geschrieben
mit nach Hause zu nehmen. Grund dafür war nicht zuletzt die Hoffnung, dass ich hier erfahren würde, wie ein Wissenschaftler, der vor vielen hundert Jahren lebte, an etwas arbeiten konnte, das heute in vielen Autos verbaut ist.
Unser heutiger Begriff ist mir in der Einleitung des Buches begegnet, die mehr als 30 Seiten lang ist und aus dem Jahr 1914 stammt. In dieser Einleitung, die von Hermann Hefele (einem späteren Geschichtsprofessor) verfasst wurde, erhält der Leser des Buches Informationen zu den Lebensumständen Girolamos. Diese waren zeitweise alles andere als blumig, wie die folgenden Sätze zeigen:
„Wo das Morgen noch unsicherer ist als das Heute, da nimmt der allgemeine Kampf um die wirtschaftliche Existenz radikalere, rücksichtslosere und unbilligere Formen an als sonst. Cardanos Wanderleben, seine dauernde Arbeitslosigkeit, sein Kampf um die Aufnahme in das Mailänder Ärztekollegium, ohne die er weder eine geordnete Praxis noch eine gesicherte private medizinische Lehrtätigkeit ausüben konnte, die ganze Art seines katilinarisch Daseins während vieler Jahre erklärt sich daraus.“
S. 15.
Um den zweiten Satz vollumfänglich zu verstehen, werde ich nun wie schon so oft unser Lexikon zu Rate ziehen.
Was das Lexikon sagt
Weil der Begriff schon vor über 100 Jahren existierte, war ich der festen Überzeugung, dass unser Lexikon diesen kennt. Zu meiner Überraschung habe ich mich geirrt. Heute hält unser Lexikon keinen passenden Eintrag für uns bereit.
Was das Internet sagt
Die Duden Webseite kennt unseren Begriff und verrät uns auch einen möglichen Grund dafür, dass unser Lexikon ihn nicht nennt: Der Begriff wird nur noch sehr selten gebraucht. Laut Duden ist katilinarisch der Hinweis auf die Redewendung „katilinarische Existenz“, die folgende Bedeutung hat:
„katilinarische Existenz (bildungssprachlich veraltend: heruntergekommener, zu verzweifelten Schritten neigender Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat)“
Wir wissen nun also was unser Begriff bedeutet, haben aber noch keine Ahnung, wo der Ursprung dieser Redewendung „katilinarische Existenz“ liegt. Lass uns doch einmal schauen, ob das Internet auch diese Frage beantworten kann.
Laut welt.de geht der Ausdruck auf Otto von Bismarck zurück, der 1898 verstorbenen ist und unter anderem Reichskanzler war. Er spielte damit auf den Römer Catilina an.
Dieses YouTube Video verrät uns, was dieser Römer angestellt hat. Im Jahr 63 vor Christus plante Lucius Sergius Catilina, ein Erzfeind des Politikers und Philosophen Cicero, eine Verschwörung. Catilina wollte im Jahr der Verschwörung Konsul werden. Cicero strebte dieses Amt ebenfalls an und erhielt es im Gegensatz zu seinem Erzfeind. Diese Entwicklung machte Catilina nicht glücklich. Der Wahlkampf war teuer und erfolglos gewesen und Catilina in Folge dessen hoch verschuldet. Also plante er einen Bürgerkrieg, in welchem er alle römischen Machthaber stürzen und zum Alleinherrscher Roms werden wollte. Catilina scharrte ein illegales Heer von 10.000 Mann um sich. Doch bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, flog die Verschwörung auf. Nachdem einige Verschwörer verurteilt wurden und ihr Leben lassen mussten, sah Catilina seine Chancen schwinden und entschied sich, einen Angriff zu starten. Bei der Schlacht kam er ums Leben.
Dank dem YouTube Video verstehe ich nun, was es mit der Redewendung „katilinarische Existenz“ auf sich hat. Catilina hatte nicht nur die Wahl verloren, sondern auch Geld, das er nicht hatte. Er war so verzweifelt, dass ein gefährlicher und blutiger Bürgerkrieg in seinen Augen tatsächlich eine attraktive Alternative zu einem völlig verschuldeten Leben darstellte.
Was uns Hermann sagen möchte
Ich bezweifle stark, dass Girolamo einen Bürgerkrieg anzetteln wollte. Ich glaube, dass Hermann den Begriff katilinarisch nutzt, um zu erklären, warum ein kluger Mann wie Girolamo manchmal zu verzweifelten Schritten neigte. Diese wurden durch seine schwierige finanzielle Lage verursacht.
Fazit
Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber ich habe zu Beginn unserer heutigen Recherche nicht damit gerechnet, dass wir es mit einem wahren Politik-Krimi zu tun bekommen werden. Daher freue ich mich nun sehr über die steile Lernkurve, die ich heute mitgemacht habe.
Was mich noch mehr fasziniert ist die Aktualität des Themas. Obwohl Catilinas Verschwörung über 2000 Jahre zurückliegt, haben wir es als Gesellschaft noch immer nicht geschafft, diese Art von Problemen in den Griff zu bekommen. Was mich dabei nervt, ist, dass es zahlreiche Menschen gibt, deren finanzielle Schieflage nicht auf Größenwahn zurückzuführen ist, sondern auf strukturelle Probleme in unserem Wirtschaftssystem. Ich hoffe, dass wir diese Themen bald in den Griff bekommen und dafür keine 2000 Jahre brauchen.
An dieser Stelle bin ich neugierig: Hast Du eine Idee, wie wir das schaffen können?
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