Weißt Du was minderbemittelt bedeutet?
Ich dachte, ich wüsste, was minderbemittelt bedeutet. Doch dann bin ich in dem Buch von
Joachim Scholtyseck: Reinhard Mohn. Ein Jahrhundertunternehmer
auf folgenden Satz gestoßen:
„Dreierlei Bestreben, dreierlei Probleme literarischen Kulturschaffens sind es, die im LESERING zu einer Lösung geführt werden sollen: auch dem minderbemittelten Leser die Welt der Bücher zu erschließen, dem Buchhändler dabei die Betreuung zu überlassen und dem Dichter wieder eine Basis zu schaffen, die nicht nur vom Bestseller bestimmt wird.“ S. 38.
Durch diesen Satz, der aus einem Rundschreiben des C. Bertelsmann Verlages zur Gründung des Leserings am 31.05.1950 stammt, habe festgestellt, dass meine Definition von minderbemittelt nicht stimmen kann. Bis jetzt dachte ich immer, minderbemittelt sei ein Synonym für dumm. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Unternehmen, das ein neues Produkt ins Leben rufen möchte, seine zukünftige Kundschaft in einem Rundbrief zu diesem Produkt als dumm bezeichnen würde. Daher werden wir gleich zum Lexikon greifen und herausfinden, was minderbemittelt nun wirklich bedeutet. Doch zuvor schauen wir uns das Produkt an, um das es in dem oben zitierten Rundschreiben geht.
Der Lesering von C. Bertelsmann
Dafür, dass ich Bücher liebe, habe ich erschreckend wenig Ahnung von Verlagen. Daher habe ich es sehr genossen, das Buch über Reinhard Mohn zu lesen, der den C. Bertelsmann Verlag im letzten Jahrhundert führte. In dieser Zeit ist der Verlag von einem kleinen mittelständischen Unternehmen zu einem internationalen Konzern gewachsen.
Ein wichtiger Grund für das Wachstum war der 1950 ins Leben gerufene Lesering, der in Deutschland über 60 Jahre am Markt bleiben sollte und in seinen Hochzeiten über 5 Millionen Kunden hatte. Dieser Leserring war eine Art Buch-Abo, bei dem der Abonnent 38,40 DM zahlte und sich dafür 8 Bücher aussuchen konnte, deren Gesamt-Verkaufspreis in der Regel um ein Vielfaches über dem Abo-Preis lag. Dieses Abo war für beide Seiten ein gutes Geschäft. Der Verlag hatte zuverlässig regelmäßige Einnahmen, mit denen er seine Kosten decken konnte. Und der Buchliebhaber sparte beim Kauf von Büchern viel Geld.
Ein anderer Vorteil des Leserings war, dass der Kunde aufgrund der geringen Buchkosten experimentierfreudiger sein konnte. Wenn er ein Buch wählte, das ihm beim Lesen dann doch nicht gefiel, hatte er nur einen relativ geringen Betrag verloren, und das Abo sorgte dafür, dass er bald ein neues Buch erhalten würde.
Als ich vor langer Zeit das erste Mal in einem Geschäft des Leserings stand, hatte ich das Gefühl, im Paradis zu sein. Damals war ich jung und hatte keine Ahnung, was der Lesering ist und wunderte mich über die günstigen Buchpreise in dem Laden. Erst Dank unseres Autors habe ich endlich die Genialität begriffen, die hinter dieser Geschäftsidee stand.
Was das Lexikon sagt
Zu meiner großen Freude hält unser Lexikon auch heute wieder einen passenden Beitrag für uns bereit:
minderbemittelt <Adj.>: wenig finanzielle Mittel habend: eine -e Familie; Ü geistig m. sein (salopp abwertend; im Hinblick auf seine Intelligenz unter dem Durchschnitt liegen). Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 18, S. 1562.
Das ist sehr spannend. Ich kannte bis jetzt offensichtlich nur 50 % der Bedeutung des Begriffes, der sowohl die Bedeutung dumm als auch die Bedeutung arm haben kann. Ich gehe an dieser Stelle davon aus, dass das oben zitierte Rundschreiben zum Thema Lesering den Begriff minderbemittelt in seinem finanziellen Sinne verwendet.
Fazit
Es ist in meinen Augen sehr faszinierend, wie sehr sich die Wahrnehmung eines Begriffes in einem halben Jahrhundert wandelt. Als das oben zitierte Rundschreiben 1950 entstand, war allen Lesern bewusst, dass der die finanzielle Situation der zukünftigen Kunden gemeint war. Ich brauchte beim Lesen des Rundschreibens eine Weile, um festzustellen, dass meine Definition von minderbemittelt hier möglicherweise nicht stimmt. Wäre das Rundschreiben heute entstanden, stände dort sicherlich prekär, statt minderbemittelt. Für mich ist das Rundschreiben wieder einmal der Wink mit dem Zaunpfahl, nicht jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, sondern im Zweifel wohlwollend nachzufragen, ob der Sender und der Empfänger die gleiche Definition des Wortes haben.
Ich war noch nie ein Fan des Wortes minderbemittelt, weil ich glaube, dass kein Mensch dumm ist. Ich glaube, dass Menschen sehr unterschiedliche Fähigkeiten haben, und wünsche mir eine Welt, in der wir nach diesen Fähigkeiten suchen, statt darüber zu nörgeln, dass ein Mensch in einem bestimmten Schulfach nicht so funktioniert, wie der Lehrer es sich wünscht. Meiner Erfahrung nach verhalten sich Menschen nur dann dumm, wenn sie ein dummes System dazu zwingt. So vergessen die im Vertrieb Beschäftigten leicht das Wohlergehen ihres Unternehmens und das ihrer Kunden, wenn sie ihre Provision brauchen, um ihre laufenden Kosten zu decken.
Mit dem heutigen Tag ist meine Abneigung gegen die Verwendung des Begriffes minderbemittelt noch ein wenig größer geworden, weil es neben der negativen Bedeutung auch noch ein Sender/Empfänger Problem mit sich bringt. Während der Autor des Rundschreibens meiner Einschätzung nach die finanziellen Mittel der Kunden meinte, könnte der ein oder andere Leser des Rundschreibens (sowie ich es getan habe) den Begriff in seinem anderen Sinn verstanden haben.
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