Weißt Du, was Polyphonie ist?

Soweit ich mich erinnern kann, ist mir unser heutiger Begriff noch nie begegnet. Der Autor

Zeichnung. Es ist ein Haus zu sehen, in dem es etwas zu essen geht. Davor steht eine Ameise auf 2 Hinterbeinen.
Dieses Haus war mal eine Schraubenfabrik.

Gerrit Confurius: Einübung in Permanenz – Umnutzung und Bastelei, S. 17-37. In: Jens Jakob Happ (Hrsg.), Helmut Kleine-Kraneburg (Hrsg.): Für eine nachhaltige Architektur der Stadt

verwendet ihn in einem Absatz, in dem es darum geht, dass Gebäude in der Regel für einen bestimmten Nutzen gebaut werden, aber nicht zwingend die ganze Zeit für diesen Zweck genutzt werden. So gibt es in Wünsdorf, ein Ort bei Berlin, zum Beispiel Gebäude, die ursprünglich Pferdeställe waren und heute unter anderem als Bücherhallen genutzt werden.

Denkmalschutz im Wandel der Zeit

Mit dem Aufkommen der Idee des Denkmalschutzes stellte sich die Frage, was denn nun schützenswert sei: Das ursprüngliche Gebäude, oder auch die Dinge, die im Verlauf der Zeit im Gebäude ergänzt wurden, damit es seiner neuen Nutzung gerecht werden konnte. Einige Denkmalschützer kamen zu dem Schluss, dass es um den Schutz des ursprünglichen Gebäudes ging, und so wurden einige Gebäude in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt. Diese Art des Denkmalschutzes ist allerdings keineswegs in Stein gemeißelt, wie die folgenden Sätze unseres Autors zeigen:

„Erst in jüngster Zeit wird das im Architekten verkörperte Paradigma der Moderne aufgeweicht durch die Einsicht, dass sich Funktionen einnisten können, in heteronomen Strukturen. Mit den Augen des Linguisten Michael Bachtin betrachtet ist Stadt Resultat ständiger Dialogizität und Polyphonie. Im Unterschied zur formalistischen Theorie der russischen Avantgarde von der Herrschaft des Autors über sein Material, die der Stimme des Autors eine privilegierte Stellung einräumt, ist für Bachtin jedes Wort lediglich eine Replik im endlosen Dialog aller mit allen.“

S. 30.

In diesem Sinne ist ein Gebäude nichts Starres, das im Sinne des Denkmalschutzes niemals verändert werden darf. In diesem Sinne ist ein Gebäude ein Objekt, das sich mit seiner Nutzung weiterentwickelt, und auch die Weiterentwicklung des Gebäudes ist im Sinne des Denkmalschutzes schützenswert.

Wir müssen mehr schützen als nur den ursprünglichen Entwurf.

Während ich ableiten kann, dass Dialogizität etwas mit einem Dialog, also einer Unterhaltung zu tun hat, stehe ich bei der Polyphonie auf dem Schlauch und weiß daher nicht, was unser Autor uns sagen möchte, wenn er diesen Begriff verwendet. Ich bin gespannt, ob unser Lexikon mich erhellen kann.

Was das Lexikon sagt

Ja, unser Lexikon kann mich erhellen. Es hält heute zwei passende Einträge für uns bereit.

Polyphonie [grch.] die, die Mehrstimmigkeit einer Komposition, bei der jeder Stimme selbstständige melod. Bedeutung zukommt; Ggs.: Homophonie. Die Lehre von der Nebeneinanderführung versch. selbstständiger Stimmen ist der Kontrapunkt. Ein wichtiges Kunstmittel der P. ist die Nachahmung. Blütezeiten des rein polyphonen Stiles liegen im 14. Jh. (G. de Machault) und im 16. Jh. (Acappella-P. von G. P. da Palestrina und O. di Lasso) sowie im frühen 18. Jh. (harmon. P., J. S. Bach) und im frühen 20. Jh. (atonale P., A. Schönberg). Bukofzer, M. F.: Music in the Baroque era. Neuausg. London 1948, Nachdr. ebd. 1983. Apel, W.: Die Notation der polyphonen Musik, 900-1600. A. d. Amerikan. Leipzig 41989.

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 11, S. 451.

Po|ly|pho|nie, die; – [griech. polyphōnía = Vieltönigkeit. Vielstimmigkeit] (Musik): Kompositionsweise, -technik, bei der die verschiedenen Stimmen selbstständig linear geführt werden u. die melodische Eigenständigkeit der Stimmen Vorrang vor der harmonischen Bindung hat.  

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 18, S. 1778.

Die Polyphonie kommt also aus der Musik und stammt vom griechischen Wort für Vieltönigkeit bzw. Vielstimmigkeit ab. Bei der Polyphonie geht es nicht um Harmonie, sondern um die Eigenständigkeit der einzelnen Stimmen.

Ich verstehe, dass Gerrit den Begriff benutzt, um deutlich zu machen, dass der moderne Denkmalschutz auch nachträglich hinzugefügte Dinge an Gebäuden schützt, selbst wenn sie sich nicht harmonisch in das Gesamtbild einfügen.

Was ich allerdings noch nicht weiß, ist, wie polyphone Musik klingt. Doch ich wette, unser großartiges Internet kann hier weiterhelfen.

Was das Internet sagt

In diesem YouTube Video sind Polyphonie und Homophonie zu hören. Bei der Homophonie singen mehrere Menschen den gleichen Text. Auch wenn sie dabei in unterschiedlichen Tonhöhen unterwegs sind, bleibt das Ganze homophon. Bei der Polyphonie haben Menschen unterschiedliche Texte. Mal singen sie abwechselnd und mal gleichzeitig. Mal wirkt es so, als ob die eine Stimme der anderen antwortet, mal untermalt die eine Stimme die andere.

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Fazit

Ich verstehe nun, was Polyphonie ist. Was ich noch nicht ganz verstehe, ist die Sache mit dem Denkmalschutz. Ich verstehe, dass ein Beharren auf der ersten Version und ein damit verbundener Rückbau von Erweiterungen an Gebäuden schädlich ist, weil auch die Erweiterungen alt und damit schützenswert sein können. Was ich nicht verstehe, ist, wo der moderne Ansatz von Denkmalschutz endet. Was darf ich an einem Gebäude machen, damit es meinen Nutzungszweck entspricht, was darf ich nicht? In Anbetracht der Zeit, die mir heute zur Verfügung steht, muss ich diese Frage für mich für den Moment unbeantwortet lassen.

An dieser Stelle bin ich neugierig. Welche Art des Denkmalschutzes ist Dir sympathischer?

21. Oktober 2025
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Ein Männchen mit vier Armen wirbelt 8 Bücher durch die Luft.
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Das Buch, das diesen Beitrag inspiriert hat, habe ich als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Das bedeutet, ich habe das Buch kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, um darüber zu schreiben.

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21. Oktober 2025
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  1. Holger 21. Oktober 2025 at 11:17 - Reply

    Polyphonie steht konkret im Zusammenhang mit Musik. Da gibt es auch die altgriechische Muse Polyhymnia, die ist Zuständig für Hymnendichtung und Musik ->

    https://www.mythologie-antike.com/t277-polyhymnia-mythologie-muse-schutzgottin-der-hymnendichtung

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