Weißt Du, was dräute bedeutet?

Dieser Begriff ist so unscheinbar, dass ich ihn wahrscheinlich schon unzählige Male übersehen habe. Erst beim zweiten Lesen der Seite 170 von

Christoph Keese: Silicon Germany. Wie wir die digitale Transformation schaffen

ist mir der Begriff ins Auge gesprungen. Unser Autor schreibt, dass Netflix heute gar nicht mehr existieren durfte, da es gleich drei Krisen durchlief, die normale Unternehmen wohl nicht überstanden hätten. Dass das Unternehmen noch lebt, verdankt es laut Christoph seiner Führungskultur. Diese sorgte dafür, dass sich das Unternehmen in jeder der Krisen neu erfand:

1. Die erste Pleite hätte 2007 angestanden. In diesem Jahr sanken die Kosten für Downloads unter die Kosten für den Postversand. Damals verschickte Netflix seine Filme per Post. Doch statt pleitezugehen, wechselte Netflix einfach sein Geschäftsmodell und stieg vom Postversand auf den Download von Filmen um.
2. Die nächste Pleite stand mit der Möglichkeit zu streamen. Das Internet war plötzlich so schnell, dass Filme nicht mehr „ewig“ heruntergeladen werden mussten, sondern direkt online angesehen werden konnten. Wieder wechselte Netflix sein Geschäftsmodell und wurde zum Streamingdienst. 
3. Die dritte Pleite drohte durch die Rechtekosten für Filme. Diese waren so hoch, dass sie die Abo-Einnahmen von Netflix zu übersteigen drohten. Also begann Netflix eigene Filme und Serien zu produzieren. Dies senkte nicht nur die rechtekosten, sondern zog auch neue Kunden an, das von Netflix produzierte Serien wie House of Cards nur hier zu sehen waren.

Bei der Beschreibung der letzten beiden Krisen nutzt unser Autor den Begriff dräute. Er schreibt:

„Kaum war das geschafft, dräute eine neue Gefahr.“

S. 170.

Was der Satz meint ist sonnenklar, oder? Als Netflix die Sache mit dem Streaming gemeistert hat, dämmerte die nächste Gefahr. Die Rechtekosten das Unternehmen aufzufressen. Doch warum nutzt unser Autor den Begriff dräute statt dämmerte? Steckt in diesem vielleicht doch noch mehr, als der Satz vermuten lässt? Zeit das Lexikon zu fragen.

Was das Lexikon sagt

Laut unserem Lexikon hat der Begriff dräute nichts mit dämmern zu tun.

Dräuen <sw. V.; hat> [mhd. dröuwen, ahd. drouwen, zu einer von der unter ↑ drehen genannten Bed. »(drehend) reiben« abgeleiteten Grundbed. »drängen«] (dichter.): drohen (1-3).

Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 17, S. 528.

Eigentlich besagt unser Lexikon, dass dräuen drohen bedeutet, doch es lohnt sich die Herleitung genauer zu betrachten, denn diese beschreibt, dass es sich um eine ganz besondere Art des Drohens handelt. Um dies zu verstehen, habe ich kurz in unserem Lexikon geschaut, was drehen bedeutet. Unser Lexikon meint nicht das Drehen einer Tasse auf dem Tisch, oder einer Münze in der Tasche, sondern den Fertigungsvorgang des Drehens, der in diesem YouTube Video zu sehen ist. Bei diesem wird ein Stück Material in eine Vorrichtung eingespannt und sehr schnell gedreht. Mit Hilfe eines Werkzeuges wird das schnell drehende Stück Material nun durch Materialabtragung bearbeitet.

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Mit diesem Bild vor Augen wird in meinen Augen deutlich, warum unser Autor den Begriff dräute, statt drohen nutzt. Netflix, bzw. die Marge des Unternehmens ist in diesem Bild das schnell drehende Stück Material. Die Rechtekosten für die Filme sind das Werkzeug. Dieses tragen immer mehr Material bzw. Marge von Netflix ab und sie drohen das Unternehmen ganz und gar verschwinden zu lassen. Doch ähnlich, wie das Stück Material beim Fertigungsvorgangs des Drehens nicht verschwindet, sondern nur in eine neue Form gebracht wird, bringen die Rechtekosten Netflix lediglich in eine neue Form und sorgen dafür, dass das Unternehmen zum Produzenten wird.

Fazit

An dieser stelle ziehe ich meinen Hut vor der Wortwahl des Autors. Schöner hätte man die letzte Krise für Netflix wohl nicht beschreiben können. Doch die Sache ist die: unser Autor ist Sachbuchautor und kein Sichter. Ein Sachbuch ist verglichen mit einem Gedicht regelrecht Fastfood. Ein Sachbuch lese ich zügig. Ich kaue nicht auf jedem Satz rum, um die letzte Geschmacks Nuance herauszuschmecken. Dafür ist es zu lang. Ein Gedicht dagegen genieße ich. Es ist kurz und schenkt mir damit die Zeit die Bedeutung jedes Wortes einzeln zu hinterfragen.

An dieser Stelle hätte ich mir gewünscht, dass unser Autor dem Satz eine Fußnote hinzugefügt hätte und das Bild hinter dem Begriff dräuen erläutert hätte. Doch wer weiß, vielleicht liest Christoph diesen Blogbeitrag ja und erfüllt mir in der nächsten Auflage des Buches meinen Wunsch.

Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber ich für meinen Teil lege diesen Begriff jetzt in meine schöne-Begriffe-aber-nicht-im-Alltag-verwenden-Kiste.