Weißt Du, was ein Kolporteur ist?
Kolporteur gehört zu den Begriffen, die mir völlig unbekannt sind und dennoch sehr vertraut vorkommen, weil sie mich an Begriffe wie Kollaboration erinnern. Ob der Kolporteur etwas mit der Kollaboration, also Zusammenarbeit, zu tun hat, werden wir heute dank dem Buch
Jack London: Abenteuer des Schienenstranges
herausfinden, in dem Kolporteur erwähnt wird.
Wilde Bedeutungsspekulation
Ich bin mir sehr sicher, dass die ersten drei Buchstaben des Kolporteurs aus dem Lateinischen stammen und sich mit „zusammen“ übersetzen lassen. Wenn das stimmt, lautet die nächste Frage, was genau ein Kolporteur „zusammen“ macht.
Die nächste Silbe „port“ steckt auch in dem Wort Transport. Beim Transport bringen wir etwas von A nach B und ich vermute daher, dass die Silbe „trans“ sich mit „zwischen“ (A und B) und Silbe „port“ sich mit „bringen“ übersetzen lässt.
Bei der letzten Silbe „teur“ vermute ich, dass diese lediglich aussagt, dass das Wort ein lebendes Wesen beschreibt. Bringen wir nun alle drei Elemente zusammen, erhalten wir
- Kol – zusammen
- port – bringen
- teur – jemand
Die wilde Bedeutungsspekulation für heute lautet also, dass ein Kolporteur Dinge oder Menschen zusammenbringt. Ob diese Spekulation auch nur in die Nähe der wahren Bedeutung kommt, wird uns nun unser Lexikon verraten.
Was das Lexikon sagt
Zu meiner großen Freude hält unser Lexikon auch heute einen Eintrag für uns bereit. Da dieser sehr kurz ist, zitiere ich ausnahmsweise zwei zusätzliche Einträge, die mit unserem heutigen Begriff verwandt sind.
Kolporteur […‘t ø: ɐ], der; -s, -e [frz. colporteur = Hausierer]: jmd., der Gerüchte verbreitet. Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 18, S. 1329.
Kolporteurin, die; -, – nen: w. Form zu Kolporteur. Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 18, S. 1329.
kolportieren <sw. V.; hat> [frz. colporter = hausieren, älter: comporter <lat. comportare = zusammentragen] (bildungsspr.): eine ungesicherte, unzutreffende Information verbreiten: ein Gerücht, eine Anekdote k. Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 18, S. 1329.
Laut unserem Lexikon haben wir mit unserer wilden Bedeutungsspekulation fast einen Volltreffer gelandet. Was unserer Spekulation fehlt ist der Teil mit dem Gerücht.
Update 13.10.2022 Kolporteure im Verlagswesen
Heute bin ich in einem Buch über eine weitere Bedeutung des Begriffes gestolpert, die ich hier mit Dir teilen möchte, indem ich den Autor zitiere:
So waren etwa in Frankreich 1848 rund 3000 Kolporteure unterwegs, bis 1870 ging ihre Zahl dann aber auf 500 zurück. Sie versorgten wie überall in Europa die kleinen Leute in den Städten, vor allem aber die Landbewohner und damit den weitaus größeren Teil der Bevölkerung mit den verschiedensten Waren, darunter auch Bücher und Zeitschriften. Für den Transport verwendeten sie verschließbare Holzkästen, die sie auf dem Rücken trugen. Von ihnen wurden Kalender, Kochbücher und Unterhaltendes ebenso angeboten wie religiöse Literatur. Oft wurden sie jedoch auch verdächtigt revolutionäre Schriften zu verbreiten und deshalb entsprechend überwacht.
Helmut Hilz: Geschichte des Buches. Von der Alten Welt bis zur Gegenwart, S. 99 f.
Fazit
Kolporteur gehört in meinen Augen zu den fiesen Worten. Sie ähneln einem Begriff mit einer positiven Bedeutung und meinen etwas Negatives. So ist es mir wahrscheinlich schon passiert, dass mir jemand von einem Kolporteur erzählt hat und ich freundlich genickt habe, an Zusammenarbeit dachte und geantwortet habe: „Oh, ich kolportiere auch gern.“ An dieser Stelle hoffe ich, dass ich mir nun endlich merken kann, was dieser Begriff wirklich bedeutet, und ich nie wieder aus Versehen guten Gewissens sage, dass ich gern kolportiere.
An dieser Stelle bin ich gespannt. Welche Begriffe begegnen Dir ab und an, bei denen Du das Gefühl hast, dass Dein Gegenüber nicht wirklich weiß, was der Begriff bedeutet?
Fazit 2
Als ich diesen Beitrag einem Freund zeigte, erhielt ich folgenden Kommentar:
Ich bin nicht sicher, ob in unserer Alltagssprache „Kolporteur“ und „kolportieren“ mit derart negativer Bedeutung genutzt werden. Ich tue es jedenfalls nicht. Etwas zu kolportieren, bedeutete für mich, eine Information, die nicht zu 100 Prozent überprüft ist, weiter zu erzählen. Für mich ist die Geschichte jedoch mehr als ein Gerücht und in jedem Fall mehr als eine unwahre Behauptung. Den Begriff Kolporteur/in habe ich noch nie gehört, wäre für mich aber auch kein Lügner oder Gerüchte Verbreiter, sondern eher ein Erzähler einer Geschichte, deren Wahrheitsgehalt ich überprüfen würde, bevor ich sie glaube. Mein Fazit zu „kolportieren“: für mich kein negativ besetztes Wort.
Anders sieht es mit Kollaboration und Kollaborateur aus. Seit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts sind diese beiden Begriffe zumindest in Deutschland und Frankreich sehr negativ besetzt. Obwohl sie in der Übersetzung aus dem Lateinischen „Zusammenarbeit“ bzw. „Zusammenarbeiter“ bedeuten, bedeuten sie im Deutschen und Französischen die Zusammenarbeit mit dem Gegner/Feind gegen die Interessen des eigenen Landes. Ein Kollaborateur war in Frankreich in der Zeit der deutschen Besetzung des Landes während des 2. Weltkrieges ein Franzose, der es mit den Deutschen hielt, also ein Verräter. Menschen, die mit den Deutschen in ihren besetzten Ländern „kooperiert“ hatten, wurden nach dem 2. Weltkrieg in vielen europäischen Ländern als Kollaborateure bezeichnet und schwer bestraft, nicht selten von ihren Landsleuten getötet. Und in Deutschland wurden unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg die Deutschen als Kollaborateure denunziert und geächtet, die mit den Besatzungsmächten freiwillig kooperierten. Dies galt vor allem für die Kooperation mit den Sowjets und den Franzosen, weniger mit den Engländern und Franzosen.
Also, anders als Du würde ich kollaborieren für negativ besetzt halten, kolportieren hingegen nicht.
Als ich den Kommentar las, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass wir selbst mit einem Lexikon nicht die volle Bedeutungssicherheit über einen Begriff haben. Ein Begriff entwickelt sich mit der Zeit und hat in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Bedeutung. Während mein Freund sich intensiv mit dem Weltkrieg auseinandergesetzt hat und daher den Begriff Kollaboration sofort in diesen Kontext setzt, habe ich bin jetzt bei der Verwendung des Begriffes nicht an den Weltkrieg, sondern an das englische Wort Collaboration gedacht.
Der Kommentar meines Freundes zeigt sehr schön, dass es sich lohnt, selbst dann die Bedeutung einer Formulierung zu hinterfragen, wenn wir uns über ihre Bedeutung absolut sicher sind. Denn manchmal assoziieren wir mit einem Begriff eine ganz andere Geschichte als unser Gegenüber.
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