Weißt Du, was retrograde Linearisierung ist?

Obwohl mir der Begriff noch nie zuvor begegnet ist, habe ich dank des Autors von

Christoph Keese: Silicon Germany. Wie wir die digitale Transformation schaffen

eine ganz gute Vorstellung davon gewonnen, was er bedeutet.

Wie der Titel des Buches schon sagt, geht es in dem Buch darum sich selbst zu verändern, um mit einer immer schnelleren digitalen Welt mithalten zu können. Daher widmet unser Autor sich auch dem Thema Berufswahl. Er schreibt, dass Niemand

„jemals für einen konkreten Beruf geboren“

S. 93.

wurde. Unsere Berufswahl wurde von zahlreichen Zufällen bestimmt. Im Verlauf unseres Erwachsenwerdens gibt uns unsere Umwelt Feedback auf unsere Fähigkeiten. Dieses Feedback gibt uns ein Gefühl dafür in welchen Bereichen wir gut sind und in welchen nicht. Weil wir vernünftig sind suchen wir uns später einen Beruf, der zu den Dingen passt, die wir gut können.

„In der Rückschau deuten wir unser Leben so, als sei der Beruf einer Bestimmung oder Entscheidung gefolgt. Wir neigen zur retrograden Linearisierung, also tun so, als habe in der Rückschau alles seinen Sinn gehabt.“

S. 93.

So wie ich den Autor verstehe, bedeutet die retrograde Linearisierung, dass wir unsere Entscheidungen in der Rückschau auf unser Leben in eine grade Linie bringen. Doch irgendetwas sagt mir, dass hinter dem Begriff noch mehr stecken könnte. Immerhin haben wir es mit einem Fremdwort zu tun und der Autor hat dieses auch noch kursiv gesetzt.

Wenn Autoren einen Begriff anders formatieren, gehe ich davon aus, dass dieser am Ende des Buches im Rahmen eines Glossars noch einmal intensiver erläutert wird. Das Buch unseres Autors besitzt allerdings kein Glossar. Daher vermute ich, dass unser Autor seinem Leser mit der Kursivsetzung sagen möchte, dass es sich lohnt sich intensiver mit dem Begriff zu beschäftigen und genau das werden wir heute mit Hilfe des Internets tun.

Was das Internet sagt

Zu meiner großen Überraschung kennt das Internet die Formulierung retrograde Linearisierung nicht. Wenn ich nach ihr suche, erhalte ich Treffer, die entweder mit dem Begriff Linearisierung oder dem Begriff retrograd beschäftigen. Es könnte also sein, dass unser Autor die Formulierung kursiv gesetzt hat, weil er damit darauf hinweisen wollte, dass er sie gerade erfunden hat.

Da uns die Internetsuche nach der Formulierung nicht weiterbringt, werden wir nun nach den einzelnen Begriffen suchen.

Was bedeutet retrograd?

Wikipedia verrät uns, dass retrograd in folgenden Bereichen unterschiedliche Bedeutungen hat:

• Astronomie
• Rechnungswesen
• Produktionswirtschaft
• Medizin im Allgemeinen
• Zahnmedizin
• Neuropsychologie
• Chronometrie
• Geologie
• Sedimentologie
• Chemie
• Schach

Das sind echt viele Bedeutungen. Zum Glück wissen wir aus dem Kontext des Buches, dass unser Autor den Begriff mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit

„Neuropsychologie: Gedächtnisverlust für einen bestimmten Zeitraum, vor einem bestimmten Ereignis, siehe Retrograde Amnesie“

https://de.wikipedia.org/wiki/Retrograd

Wenn ich das so lese gewinne ich den Eindruck, dass unser Autor den Begriff retrograd wählt, um zu verdeutlichen, dass wir bei der Rückschau unbewusst vergessen alle Entscheidungen und Ereignisse aus der Vergangenheit, die gegen unsere aktuelle Berufswahl sprechen zu berücksichtigen. Wenn wir danach in einem anderen Kontext gefragt werden, wissen wir, dass wir diese Entscheidungen getroffen haben. Doch wenn wir im Nachhinein an unsere Berufswahl denken, haben wir diese Entscheidungen schlichtweg nicht auf dem Schirm.

Was bedeutet Linearisierung?

Bei unserer Suche nach retrograd hatten wir offenbar großes Glück. Für die Linearisierung hält Wikipedia keine Übersichtsartikel mit unterschiedlichen Bedeutungen bereit. Ein Blick auf die Ergebnisliste der Suchmaschine vermittelt mir den Eindruck, dass der Begriff Linearisierung in der Mathematik und Physik zu Hause ist. Das Duden.de keinen passenden Eintrag zu diesem Begriff bereit hält erhärtet meine Vermutung.

Zum Glück liefert das Lexikon der Physik auf Spekturm.de eine in meinen Augen sehr brauchbare Definition, die sich mit etwas Kreativität in den Kontext unseres Autors zwängen lässt:

„Linearisierung, die lineare Entwicklung einer Funktion, eines Operators oder eines Systems um einen Entwicklungspunkt.“

Nehmen wir nun einmal unsere Berufswahl. Diese startet an einem Entwicklungspunkt, den wir selbst festlegen. Es ist der Punkt, an dem wir das erste Mal festgestellt haben, dass wir eine bestimmte Stärke oder Fähigkeit besitzen, die uns zu unserem heutigen Beruf befähigt. Bei der retrograden Linearisierung schnappen wir uns diesem Punkt und zeichnen eine lineare Entwicklung auf, die uns genau zu dem Punkt führt, an dem wir gerade stehen.

Fazit

Die heutige Recherche ist wieder einmal in eine völlig andere Richtung abgedriftet als vermutet. Eigentlich wollte ich heute den Erfinder des Begriffes ausfindig machen und darstellen welche psychologischen Muster dafür sorgen, dass Menschen zur retrograden Linearisierung neigen. Doch daraus wurde nichts.  Dennoch bin ich mit der heutigen Recherche nicht unglücklich. Denn nun wissen wir, dass wir den Begriff keinesfalls unter der Annahme verwenden dürfen, dass unser Gegenüber ihn kennt.

Mein wirkliches Takeaway aus dieser Recherche ist, dass wir mit allem, was wir tun – wenn auch nicht immer bewusst – die Leben der Menschen in unserer Umgebung beeinflussen. Mit einer von Herzen kommenden positiven Formulierung wie „Wow, das ist großartig geworden.“ oder „Das hat mich mächtig beeindruckt, ich könnte das nicht.“ Können wir Menschen dabei helfen neue Stärken zu entdecken oder ihnen mehr Selbstvertrauen schenken.