Wie nehmen wir Verluste wahr?

 

Gute Nachrichten?

Stell Dir vor, Du bekommst einen Brief in dem steht, dass Du aufgrund einer Sache, die vor vielen Jahren passiert ist und die Du schon lange abgehakt hast, 10.000 € bezahlen sollst. Nachdem Du sichergestellt hast, dass die Sache ihre Richtigkeit hat, bezahlst Du den Betrag.

Zwei Wochen später hast Du wieder einen Brief im Kasten, der Dir die freudige Nachricht überbringt, dass Du 10.000 € gewonnen hast und dass das Geld bereits auf Dein Konto überwiesen wurde. Weil Du weißt, dass solche Briefe gern genutzt werden, um Menschen Daten zu entlocken, prüfst Du Dein Konto und stellst erfreut fest, dass Dein Kontostand sich um den genannten Betrag erhöht hat.

Wie nimmst Du diese beiden Ereignisse, einen Verlust und einen Gewinn, wahr?

Nach 6 Monaten begegnest Du einem sehr guten Freund, der Dich fragt, wie es Dir geht und was im letzten Jahr so passiert ist. Wie würdest Du die Geschichte mit den Briefen erzählen?

  1. Ich habe gerade 10.000 € gewonnen. Das macht mich unglaublich glücklich.
  2. Ich musste 10.000 € zahlen, und das wurmt mich, weil ich der Meinung war, dass die Sache längst erledigt ist.
  3. Ich musste 10.000 € zahlen und habe kurz darauf 10.000 € gewonnen, also bin ich ganz entspannt.

Da die meisten Menschen Verluste stärker wahrnehmen als Gewinne ist die unwahrscheinlichste Antwort 1). Meiner Erfahrung nach (die statistisch natürlich nicht valide ist) freuen sich die meisten Menschen intensiv, aber kurz über einen Gewinn. Ein Verlust dagegen beschäftigt Menschen viel länger und wird in der Regel nicht so schnell vergessen.

Kann ein Gewinn einen Verlust emotional neutralisieren?

Verlustaversion klingt spannend.

Tatsächlich ist es möglich, einen Verlust von 10.000 € auf der emotionalen Ebene durch einen Gewinn zu neutralisieren. Allerdings reicht ein Gewinn in gleicher Höhe dafür nicht aus. Der Grund hierfür ist unsere Verlustaversion, also unsere Abneigung gegen Verluste. Ohne, dass wir es wirklich steuern können, nehmen wir Verluste stärker wahr als Gewinne. Doch wie hoch muss ein Gewinn sein, um einen Verlust von 10.000 € zu neutralisieren? Wie hoch muss ein Gewinn sein, damit wir den Verlust nicht mehr wahrnehmen?

Obwohl ich mich seit vielen Jahren immer wieder mit diesen Fragen beschäftige, habe ich nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden. Die Antworten, die ich auf diese Frage fand, ob ein Verlust durch einen Gewinn kompensiert werden kann lauteten fast immer, ja. Doch die Zahlen, die genannt wurden, waren einfach zu unterschiedlich. Manche Autoren sprachen davon, dass ein Gewinn doppelt so hoch sein müsse wie der Verlust, um diesen zu neutralisieren. Andere Autoren wiederum nannten höhere Werte.

Wie hoch muss ein Gewinn sein, um einen Verlust emotional zu neutralisieren?

Gleich gibt es die Antwort, nach der ich mich sehne.

Kannst Du Dir vorstellen, wie sehr ich mich gefreut habe, als ich bei

Daniel Kahneman: Schnelles Denken langsames Denken

endlich über die Antwort auf meine Frage gestolpert bin und zudem auch herausfand, warum ich über Jahre immer so unterschiedliche Antworten gefunden habe? Während ich diesen Beitrag schreibe, hüpft mein Hirn vor Freude die ganze Zeit auf und ab, weil hier gerade der Text entsteht, den ich in Zukunft wahrscheinlich aufgrund der nun folgenden Absätze am häufigsten zitieren werde.

Der erste Teil unserer Antwort steht bei Daniel Kahneman auf Seite 430 und lautet wie folgt:

„In etlichen Kontexten werden Verluste etwa doppelt so stark gewichtet wie Gewinne: bei der Wahl zwischen Glücksspielen, beim Endowment-Effekt und bei Reaktionen auf Preisänderungen. “

Wann reicht ein doppelter Gewinn, um einen Verlust zu neutralisieren?

Das bedeutet, dass wir in den folgenden Situationen ein neutrales Gefühl zu Verlusten haben:

  • Wenn wir im Lotto 5 € verlieren und 10 € gewinnen.
  • Wenn wir etwas geschenkt bekommen haben, wollen wir einen doppelt so hohen Preis dafür bekommen, wie wir selbst bereit wären zu bezahlen, wenn wir den gleichen Gegenstand kaufen würden. (Den Effekt werde ich irgendwann in einem anderen Beitrag ausführlich beschreiben.)
  • Wenn wir heute ein Produkt für 100 € kaufen und in 4 Wochen das gleiche Produkt für 50 € sehen, brauchen wir 100 € als Widergutmachung, um unser Verlustgefühl zu neutralisieren.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass in normalen Situationen, die rein finanziell und nicht bedrohlich für uns sind, ein doppelter Gewinn reicht, um einen Verlust zu kompensieren.

Wann brauchen wir höhere Gewinne, um einen Verlust emotional zu neutralisieren?

Zahlreiche Studien und Experimente belegen, dass es etliche Situationen gibt, in denen ein doppelter Gewinn nicht ausreicht, um einen Verlust emotional zu neutralisieren.

Extrem-Beispiel: Gesundheit

Die Wahrscheinlichkeit zu sterben liegt bei 1 : 1000.

In einem Experiment von Richard Thaler wurden Teilnehmer im ersten Versuchsaufbau gebeten, sich vorzustellen, dass sie sich mit einer Wahrscheinlichkeit von 1:1000 mit einer Krankheit infiziert hätten, die binnen einer Woche zum Tod führen würde. Danach sollten die Teilnehmer den Höchstpreis nennen, den Sie bereit wären, für eine Impfung zu zahlen, die nur so vor dem Auftreten der ersten Symptome wirksam wäre. Die Teilnehmer waren bereit „einen erheblichen, aber begrenzten Betrag zu zahlen “.

Im zweiten Teil des Experiments wurden Teilnehmer ebenfalls um die Nennung eines Preises gebeten. Dieses Mal ging es darum, dass die Teilnehmer sich im Rahmen eines Forschungsprojektes freiwillig mit der oben genannten Krankheit infizieren lassen würden und so freiwillig das Risiko einzugehen, dass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 : 1000 das Forschungsprojekt nicht überleben würden. Die nun typischerweise genannten Preise wiesen laut Richard zu den obigen ein Verhältnis von 1:50 auf.

Fazit

Ich freue mich wie ein Kullerkeks.

Dank Daniel habe ich nun endlich die Antwort, die ich so lange gesucht habe. Ich weiß nun, dass die meisten Menschen mindestens einen doppelt so hohen Gewinn brauchen, um einen Verlust emotional zu neutralisieren. Wie hoch ein Gewinn sein muss, um einen Verlust zu neutralisieren, ist von vielen Faktoren wie zum Beispiel den folgenden abhängig:

  • Die Möglichkeit der Reue erhöht das Verlustgefühl und damit auch den Betrag, der gebraucht wird, um dieses Verlustgefühl zu neutralisieren.
  • Verstöße gegen die Moral wirken sich ebenfalls auf unser Verlustgefühl aus.

Grundsätzlich lässt sich folgendes sagen: Je stärker der Betroffene den Verlust empfindet, desto höher muss ein Gewinn sein, um diesen zu neutralisieren.

An dieser Stelle freue ich mich wie ein Kullerkeks darüber, dass ich die Antwort endlich gefunden habe und bin wie immer sehr gespannt, wie Deine Erfahrungen zu dem Thema aussehen. Hast Du Verlustaversionen schon einmal miterlebt? Was hast Du empfunden?

30. April 2021
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Buchcover zum Beitrag
Ein Männchen mit vier Armen wirbelt 8 Bücher durch die Luft.
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5,6 min readCategories: Bücher, Wissen

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30. April 2021
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