Dürfen Mitarbeiter Chefs loben?

Lass Dir folgenden Satz einmal auf der Zunge zergehen: „Chef, das hast Du großartig gemacht.“ Wie fühlt sich das an? Ich erinnere mich noch daran, wie ich das erste Mal jemandem erzählte, dass ich meinen Chef lobe. Die Reaktion meines Gegenübers lautete: „Das kannst Du doch nicht machen! Da kratzt Du doch an seiner Autorität.“ Diese Reaktion verwunderte mich so sehr, dass ich mit einer Gegenfrage regierte: „Chefs sind doch auch Menschen. Woher soll mein Chef denn wissen, dass er etwas richtig gut gemacht hat, wenn ich ihm kein Feedback gebe?“ An die Antwort erinnere ich mich nicht mehr, doch das Prinzip des Chef-Lobens habe ich bis heute beibehalten. Wer damit nicht umgehen kann, hat nicht das Zeug, mein Chef zu sein. Punkt. Ende. Aus.
Übrigens bin ich mit meinem Bedürfnis, meinen Chef zu loben, alles andere als allein:
55 % der Befragten fühlen sich in Mitarbeiterbewertungsgesprächen willkürlich bewertet. 79 % wünschen sich, ihren Chef beurteilen zu können.
https://www.zeit.de/karriere/beruf/2012-11/jahresendgespraeche-chef-angestellte
An dieser Stelle lautet die Frage: Gibt es Unternehmen, die sich trauen würden, Chefbeurteilungen wahr werden zu lassen? Dank
Peter Kreuz & Anja Förster: Nur Tote bleiben liegen. Entfesseln Sie das lebendige Potenzial in Ihrem Unternehmen
weiß ich zu meiner großen Freude, dass die Antwort auf diese Frage „Ja“ lautet, und der Name des Unternehmens lautet HCL Technologies. Und das schauen wir uns jetzt genauer an.
Chef, Ihr Zeitmanagement hat noch Luft nach oben.

So lautet mit 3,6 von 5 möglichen Sternen die Beurteilung der Zeitmanagementfähigkeiten des CEOs von HCL Technologies, einem indischen IT-Unternehmen. CEO Vineet Nayar nimmt seinen Angestellten diese Beurteilung nicht etwa krumm, sondern nimmt sie als Ansporn, um sein Zeitmanagement zu optimieren. Seine Motivation, sich an dieser Stelle zu verbessern, rührt nicht etwa daher, dass jeder in seinem Unternehmen die Beurteilung sehen kann, sondern daher, dass Vineet von sich und seinen Führungskräften fordert, an sich selbst zu arbeiten, bevor dies von den eigenen Mitarbeitern gefordert wird.

Mit dieser Einstellung trifft Vineet in meinen Augen den Nagel auf den Kopf. Während die Unternehmen im Zeitalter der Industrialisierung möglicherweise eine Struktur brauchten, die auf Hierarchie und Kontrolle basierte, brauchen die Unternehmen in der Digitalisierung eine Struktur, die Chefs und Mitarbeitern ermöglicht, ihr größtmögliches Potenzial zu entfalten. Denn in einer Welt, die sich so schnell bewegt wie unsere, kann es sich niemand leisten, Potenziale nicht zu nutzen. Damit Potenziale sich entfalten können, braucht es eine Struktur, die von gegenseitigem Respekt und von Augenhöhe geprägt und frei von Angst ist. In einer solchen Struktur kann die Kreativität von Menschen aufblühen. Sie beginnen – im positiven Sinne des Wortes – zu spielen und neue Wege auszuprobieren. Neue Wege, die nicht selten das Potenzial haben, ein wertvolles zukünftiges Standbein für das eigene Unternehmen zu werden. Denken wir an dieser Stelle doch nur einmal an Google Maps, das entstand, weil Google es seinen Mitarbeitern erlaubte, x % ihrer Zeit in Projekte zu stecken, die ihnen am Herzen lagen. Und ein Mitarbeiter bei Google hatte ein Herz für Landkarten.

In Unternehmen, in denen das Prinzip „Command and Control“ herrscht, und Führungskräfte das Gefühl haben, dass ihre Mitarbeiter ihnen nicht das Wasser reichen können, ist die Chance gering, dass Mitarbeiter ihr volles Potenzial entfalten. Solche Strukturen haben das Potenzial, Mitarbeiter in die Kündigung oder – schlimmer noch – in die Resignation zu treiben. In solchen Unternehmen werden zuhauf Mitarbeiterbewertungsgespräche geführt, auf die viele Chefs und Angestellten keine Lust haben. Das kostet nicht nur Zeit, sondern auch Motivation.
Chefs der Zukunft kennen Worte wie „Sachbearbeiter-Schabe“ nicht mehr. Sie nehmen gern Feedback von ihren Mitarbeitern an und nutzen dies, um sich weiter zu entwickeln. Auch die Mitarbeiter der Zukunft nehmen gern Feedback von Chefs und Kollegen an.
Fazit
Diese kleine Geschichte von Vineet Nayar hat mir Mut gegeben, dass ich nicht die einzige Verrückte auf der Welt bin, die erkannt hat, dass ein Machtvakuum nicht nur dem Mitarbeiter, sondern auch dem Chef und dem Unternehmen schadet. Es ist schön zu wissen, dass ein ganzes Unternehmen, dieses erkannt hat und dieses Prinzip bis heute erfolgreich praktiziert, auch wenn Vineet 2013 aus dem Unternehmen ausgeschieden ist.

Das Großartige an dieser Geschichte ist Folgendes: Wir brauchen keine vorgegebenen Strukturen in unserem eigenen Unternehmen, um unsere Chefs zu beurteilen, wir können es einfach machen. Ich habe bei einem kleinen Unternehmen gute Erfahrungen damit gemacht, mich bei der Beurteilung meines Chefs auf die positiven Dinge zu fokussieren und klein anzufangen. So lauteten meine Feedbacks in der Regel einfach:
- Chef, es war großartig, dass Du den Urlaub so schnell entschieden hast.
- Chef, vielen Dank, dass Du dieses Tool eingerichtet hast, es hilft mir im Sales unglaublich.
- Chef, der neue Text auf der Webseite ist großartig.

Ich kenne kaum einen Menschen, der nicht gern gelobt wird, solange das Lob absolut ernst gemeint ist. Durch meine Kultur des Chef-Lobens kam irgendwann der Tag, an dem mein Chef begann, mich aktiv nach einem Feedback zu fragen. Damit öffnete er mir die Tür für Feedbacks, die auch „negative Dinge“ ansprachen. In solchen Situationen sagte ich dann: „Mir gefällt der neue Webseitentext sehr gut. Noch besser würde er mir gefallen, wenn er nicht die Schriftgröße einer Packungsbeilage hätte. Ich glaube, ich bin in diesem Fall ein Fan von Schriftgröße 16. Kannst Du mir das mal zeigen?“

Für mich hat dieses Konzept viele Jahre sehr gut funktioniert, und ich bin gespannt, ob es auch für Dich funktioniert. Ich ahne, dass das Ganze etwas Mut erfordert und nicht in jedem Unternehmen bzw. bei jedem Chef funktionieren wird. Doch wenn dies bei Deinem Chef nicht funktioniert, kannst Du diese Kultur auch einfach unter Deinen Kollegen etablieren. Du kannst Sätze wie „Wow, Petra, diese Exceltabelle ist der Hammer, kannst Du mir bei Gelegenheit zeigen, wie Du das machst?“ Ich wette, dass diese Kulturveränderung unter den Mitarbeitern langfristig das ganze Unternehmen beeinflussen wird. Allerdings ist es sehr wichtig, zu berücksichtigen, dass das Lob immer von Herzen kommt und nie einfach nur so dahingesagt ist.
Ach ja: Solltest Du ein Team führen und diesen Beitrag mögen, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um mit Deinem Team mal darüber zu sprechen, was sie von diesem Konzept halten. 😉
So, und nun genug der schönen Worte. Es ist an der Zeit, die Welt zu verändern. Packen wir es an. Ich freue mich auf Deine Berichte.
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Das Buch, das diesen Beitrag inspiriert hat, habe ich als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Das bedeutet, ich habe das Buch kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, um darüber zu schreiben.
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In
Mike Fischer: Erfolg hat, wer mit Liebe führt. Vom Egoismus zum Wir
Ist mir auf Seite 134f. das Führungskräfte-Feedback begegnet. Mike schreibt in seinem Buch, das man sich den Bewertungsbogen für Führungskräfte auf seiner Webseite herunterladen kann. Leider gibt es den Bogen auf seiner Webseite. Doch auf Nachfrage hat Mike ihn den Leser von du-bist-grossartig.de zur Verfügung gestellt:
Beurteilungsbogen für Chefs (PDF)
Hausaufgaben für Unternehmer
Ich wünsche Dir viel Erfolge mit den Dokumenten und bin gespannt welche Erfahrungen Du damit sammelst.
Heute bin ich in
Lars Vollmer: Zurück an die Arbeit – Back To Business: Wie aus Business-Theatern wieder echte Unternehmen werden – wertschöpfend und erfolgreich. Das neue wegweisende Management-Buch,
über ein weiteres Beispiel gestolpert, das zeigt, dass Augenhöhe auch im Journalismus möglich ist. Der Autor schreibt über den Journalismus, der so ist wie er ist, weil Redaktionen eine ganz bestimmte Struktur haben. In diesen Strukturen gibt es klare Regeln, in denen der Redakteur definitiv nicht das letzte Wort hat.
Tilo Jung hält nichts von diesen Strukturen und arbeitet daher als freier Redakteur, der einfach sein Ding bzw. sein politisches Magazin Jung & Naiv macht. Unser Autor schreibt:
„Jung ignoriert konsequent jede Form von Machtdemonstration. Er duzt einfach jeden, fragt den Parteivorsitzenden der FDP, Christian Lindner am Anfang des Interviews: „Wer bist du?“, legt auf dem Sofa den Arm hinter [Bundesverband der Deutschen Industrie e. V.] BDI-Chef Ulrich Grillo auf die Lehne wie hinter den kleinen Bruder und fragt Gregor Gysi, den damaligen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, der Partei Die Linke, der stolz darauf ist, der seinerzeit jüngster Rechtsanwalt der DDR gewesen zu sein: „Hat sich da jemand ernst genommen?““ S. 125
Der Autor von
Christoph Keese: Disrupt Yourself. Vom Abenteuer, sich in der digitalen Welt neu erfinden zu müssen
Hat einen großartigen Namen für das Gefunden, was dieser Blog-Beitrag beschreibt: Er schreibt
„Change Management reicht nicht mehr aus, denn Change Management heißt: Einer befiehlt den Wandel, und alle anderen vollstrecken ihn. Das kann in der atomisierten Gesellschaft nicht glücken. Heute ist Change Movement gefragt – eine Bewegung des Wandels, die von unten nach oben aufsteigt; aus eigenem Antrieb, aus eigener Kraft und im eigenen Interesse, bestätigt und befördert von den Führungskräften an der Spitze.“ S. 274.
Sein Begriff ist umfassender als das, was dieser Beitrag beschreibt. Deinen Chef zu loben ist ein erster guter Schritt hin zu dem was Christoph fordert.