Müssen Führungskräfte mehr wissen als Ihre Mitarbeiter?
Stell Dir vor, Du leitest ein Team und hast keine Ahnung von dem, was es macht. Du kannst möglicherweise beurteilen, ob das Arbeitsergebnis des Teams stimmt. Doch Du bist nicht in der Lage, die einzelnen Arbeitsschritte Deiner Mitarbeiter selbst umzusetzen, weil Dir hierfür das Wissen fehlt. Wie fühlt sich diese Vorstellung an?
Ich war lange Zeit der Überzeugung, dass umfassendes fachliches Wissen in einem Bereich eine Grundvoraussetzung für eine Führungsrolle ist. Dank Filmen wie Karate-Kid wusste ich, dass ein Meister viel Wissen braucht, um einen Schüler auszubilden. Also strebte ich am Anfang meiner beruflichen Laufbahn danach, mir genug Fachwissen anzueignen, um eine Führungskraft zu werden. Ich dachte, dass ich mehr wissen müsste als mein Team, um den Job einer Führungskraft zu bekommen.
Heute freue ich mich, dass mein Plan, eine Führungskraft zu werden, damals kläglich scheiterte. Auch wenn ich damals verzweifelt und traurig war, war dieses Scheitern der erste Schritt in eine – für mich – völlig neue Welt. Eine Welt, in der Führungskräfte ganz anders sind, als ich immer dachte.
Der Autor
gibt seinen Lesern Einblick in diese – für mich inzwischen nicht mehr ganz so – neue Welt. Zu meiner großen Freude beschäftigt es sich dabei auch mit der Frage, ob Führungskräfte Experten in ihrem Bereich sein müssen. Seine Antwort hat mir so gut gefallen, dass ich sie heute mit Dir teilen möchte.
Eine komplexe Welt braucht Expertenteams
In den letzten Jahrzehnten hat die Welt einen rasanten technischen Fortschritt erlebt, der auch vor klassischen Berufszweigen wie der Dachdeckerbranche nicht Halt macht. Als das Dach erfunden wurde, war seine einzige Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Menschen vor dem Wetter geschützt wurden. Mit der Zeit entwickelte sich die Technologie „Dach“ weiter. Menschen kamen auf die Idee, dass Dächer auch Fenster haben und aus verschiedenen Materialien bestehen könnten. Und so entwickelte sich der Beruf des Dachdeckermeisters, mit dem der Dachdeckerin die Lage versetzt wurde, die Wünsche seiner Kunden wahr werden zu lassen.
Doch dann kamen Menschen auf die Idee, dass Dächer nicht nur vor Wetter schützen und ein wenig Licht ins Haus lassen könnten, sondern auch für andere Dinge nutzbar wären: für die Energiegewinnung zum Beispiel, oder als Grünflächen. Ich habe keine Ahnung, ob die klassische Dachdeckermeister-Ausbildung auch diese Themen umfasst. Doch ich kann mir vorstellen, dass die Installation einer Solaranlage oder die Begrünung eines Daches auch heute noch nicht zur Fachkompetenz eines Dachdeckermeisters gehören. Wenn das stimmt, braucht es für diesen Job ein Team aus Experten, zu dem unter anderem auch jemand gehört, der ein Dach decken kann und jemand, der eine Solaranlage auf dem Dach installieren kann.
Deutlicher wird die Sache mit den Expertenteams in der Digitalen Welt. So braucht eine individuell erstellte Webseite für Unternehmen nicht nur jemanden, der sie baut, sondern auch jemanden, der die Bilder und die Texte für sie erstellt, und jemanden, der weiß, wie sie aussehen muss, damit ein Kunde sich zurechtfindet. Und dann braucht das Team natürlich noch jemanden, der dafür sorgt, dass die Suchmaschine das Team findet. Es gibt einzelne Menschen, die all diese Bereiche beherrschen. Doch diese Menschen sind nie so tief im Thema Texterstellung, wie ein Mensch, der sich nur um Texterstellung kümmert.
Expertenteams führen
Wer heute ein Experte sein will, muss nicht nur viel Zeit in ein Thema investieren, um dieses zu erschließen. Er muss auch am Ball bleiben, weil sich das Wissen in diesem Themenbereich rasant entwickelt. Experte in einem Thema zu sein ist inzwischen ein Vollzeitjob, und daher muss jede Führungskraft eines Expertenteams damit leben, dass ihre Mitarbeiter mehr wissen als sie.
Das bedeutet, dass Führungskräfte, die solche Teams führen – selbst, wenn sie wollten – fachlich keinen großen Einfluss ausüben können. Doch worin besteht dann die Aufgabe einer Führungskraft, wenn nicht in der fachlichen Führung des eigenen Teams durch Macht und Autorität?
Unser Autor vertritt die Auffassung, dass ihre Aufgabe darin besteht, ein coachender Prozessbegleiter zu sein. Statt also darauf zu bestehen, dass eine Aufgabe auf eine ganz bestimmte Art und Weise und nur so gemacht wird, hat die Führungskraft eines Expertenteams allein dafür zu sorgen, dass das Team die Aufgabe umsetzt.
Dazu gehört es, einen Blick auf die Aufgabe, die Zeit und die Ressourcen zu haben. Expertenteams brauchen Raum für die Selbststeuerung und eine Führungskraft, die in der Lage ist, diesen Raum zu geben. Das ist in Anbetracht des Zeitdrucks in einem Projekt eine Herausforderung. Und hier kommt der coachende Prozessbegleiter ins Spiel, den unser Autor für so wichtig hält.
Ein Expertenteam zu führen bedeutet, dass die Führungskraft da ist, wenn sie vom Experten gebraucht wird und nicht da ist, wenn sie nicht gebraucht wird. Ein Teammitglied, das seine Aufgaben zum versprochenen Zeitpunkt fertig hat, wird weniger mit der Führungskraft zu tun haben, als ein Teammitglied, das dies nicht schafft. Denn wenn ein Auftrag nicht pünktlich fertiggestellt wird, hat die Führungskraft die Aufgabe, zusammen mit dem Teammitglied zu schauen, wie die Aufgabe so schnell wie möglich fertig werden kann. Im Anschluss gilt es dann den Prozess, die Aufgabenlösung zu analysieren und die Stellen ausfindig zu machen, die für die Verzögerung gesorgt haben. Und es geht darum, gemeinsam mit dem Teammitglied Wege zu finden, wie solche Verzögerungen in Zukunft verhindert werden können.
Wer Expertenteams führen möchte, ist – so laut das Ergebnis unseres Autors – Loyalität, Kompetenz und Engagement der Teammitglieder. Diese bekommt er nicht durch Macht uns Autorität, sondern durch Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Die Macht in solchen Teams ist nicht an eine einzelne Führungskraft gebunden, sondern an die jeweiligen Rollen, die die Teammitglieder innehaben. Das Mitglied in einem Expertenteam hat die Macht, fachliche Entscheidungen zu treffen. Die Führungskraft hat die Macht, diese fachlichen Entscheidungen finanziell zu ermöglichen.
Fazit
Als ich meinen letzten Job antrat, freute ich mich darauf, eine Menge zu lernen. Lange Zeit wusste mein Chef mehr als ich, und ich sog sein Wissen auf, arbeitet mich in die Themen ein und erreichte irgendwann den Punkt, an dem mein Wissen in einigen Bereichen größer war als seins. An diesen Stellen verließ ich – ohne es zu wissen oder zu wollen – unser ursprüngliches Rollenagreement, in dem ich von ihm lernte. Als ich den Punkt überschritt, an dem ich an manchen Stellen mehr wusste als mein Chef, verlor mein Chef für mich – ohne, dass ich mir dessen damals schon bewusst war – den Status der Führungskraft. Der Job fühlte sich mehr und mehr falsch an, weil das, was ich machte, immer weniger mit dem übereinstimmte, was ich wusste. Und so kam der Tag, an dem ich kündigte.
Mein neuer Job ist völlig anders. Mein Team ist ein Team voller Experten und Spezialisten. Alle Teammitglieder machen einen fantastischen Job, und ich habe keine Ahnung, wie sie ihn machen. Früher hätte mir meine Ahnungslosigkeit Angst gemacht. Heute genieße ich meine Rolle.
In der Rolle als Projektmanager habe ich die Aufgabe, mein Team zu managen und dafür zu sorgen, dass Dinge fertig werden. Zu dieser Rolle gehört es zu schauen, dass die Aufgaben bearbeitet werden, den aktuellen Stand der Aufgabenerfüllung zu kennen und ein Teammitglied dabei zu unterstützen, eine Aufgabe fertig zu bekommen.
Doch dabei greife ich nie fachlich ein. Ich biete lediglich Unterstützungen in Dingen, in denen ich mich auskenne. So gebe ich einem Texter Tipps bei Verkaufsformulierungen und einem Grafiker Tipps zum Thema Flow. Doch komme was wolle, ich erkläre einem Teammitglied nie, wie es seinen Job zu machen hat. Wie auch, ich habe ja keine Ahnung, wie der geht.
Das Ergebnis dieses Arbeitens ist beeindruckend. Jeden Tag entstehen Dinge, die besser sind als ich sie mir hätte vorstellen können. Dabei erlebe ich regelmäßig, wie Teammitglieder etwas Neues lernen und über sich hinauswachsen. Und das ist ein unglaubliches Gefühl. Jeden Tag lerne ich, dass ich weiß, was ich nicht weiß und inzwischen kann ich loslassen und muss nicht mehr alles wissen.
Wenn Du mich also fragst, so lautet meine Antwort auf die Frage: Müssen Führungskräfte mehr wissen als Ihre Mitarbeiter? Dann lautet meine Antwort: Nein, müssen sie nicht. Führung kann – mit dem richtigen Team – auch ohne Wissen im Fachlichen funktionieren.
Und an dieser Stelle bin ich neugierig: Wie sind Deine Erfahrungen mit wissenden und unwissenden Führungskräften?
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Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich früher auch dachte, dass umfassendes Fachwissen eine Grundvoraussetzung für eine Führungsrolle ist. Doch Pflügler zeigt auf, dass in einer komplexen Welt Expertenteams wichtig sind, die aus Menschen bestehen, die sich auf unterschiedliche Bereiche spezialisiert haben. Eine ähnliche Situation erlebte meine Schwester, als sie in einer Führungsrolle tätig war, ohne genau zu wissen, wie die Arbeit ihrer Mitarbeiter aussah. Sie hatte jedoch ein gutes Auge dafür, ob das Arbeitsergebnis stimmte und konnte so ihre Mitarbeiter motivieren. Ich denke, dass es in der heutigen Zeit wichtiger ist, dass Führungskräfte gute Kommunikations- und Managementfähigkeiten besitzen, um Expertenteams effektiv zu leiten. Denn nur so kann man das Beste aus den Mitarbeitern herausholen und gemeinsam erfolgreich sein.
Wie wir gesehen haben müssen Führungskräfte nicht alles Wissen. Nicht-Wissen ist völlig okay. Der Autor von
Sebastian Pflügler: Mitarbeiter führen in der digitalen Ära. Wie man digitale Effizienz und Menschlichkeit in Zeiten von Homeoffice und New Work verbindet
schreibt auf Seite 207 seines Buches, dass es wichtig ist, dass Führungskräfte und Mitarbeitende in einer Atmosphäre arbeiten, in denen sie zugeben können, dass sie etwas nicht wissen. Solche Arbeitsatmosphären entstehen nicht von selbst. Kaum ein Mensch gibt in einer Gruppe von Alleswissern gern zu, dass er etwas nicht weiß.
Aus diesem Grund empfiehlt Sebastian seinen Lesern das Unwissen im eigenen Team sichtbar zu machen, indem einmal im Monat ein Teammeeting mit der Check-in Frage „Was hast Du diesen Monat gelernt, dass Du vorher noch nicht wusstest?“ begonnen wird. Da jeder im Team die Frage beantwortet, wird für jeden deutliche, dass es niemanden im Team gibt, der alles weiß. So wird es einfacher eigene Wissenslücken zuzugeben und gleichzeitig wird deutlich gemacht, dass Wissenslücken schließen möglich und völlig okay ist.