Weißt Du, was Pietismus ist?
Vor kurzem haben wir herausgefunden, dass der Begriff pietätlos bzw. pietät verschiedene Bedeutungen hat, die von Achtung bis Beerdigungsinstitut reichen. Bei unserer damaligen Recherche sind wir dem durchaus verwandt klingenden Begriff Pietismus nicht begegnet, der in dem Buch

eine große Rolle spielt. Heute werden wir nun herausfinden, ob die beiden Begriffe etwas miteinander zu tun haben, oder nur ähnlich klingen. Doch zuvor schauen wir uns an, in welchem Kontext der Begriff in dem Buch unserer Autorin auftaucht.
Bevor ich das Buch gelesen hatte, wusste ich nicht, dass die für ihre Kuscheltiere berühmte Firma Steiff von einer Frau gegründet wurde. Noch mehr hat mich fasziniert, dass die Gründerin des Unternehmens an Kinderlähmung litt und dadurch nicht selbstständig gehen konnte. Dass Frauen oder Menschen, die auf Rollstühle angewiesen sind, Unternehmen gründen überrascht mich nicht. Was mich an Magarete Steiffs Geschichte überrascht hat, ist die Tatsache, dass sie das Unternehmen bereits im Jahr 1880 gründete. Dies geschah also lange vor dem Jahr 1957, in dem Frauen in Deutschland endlich ohne Erlaubnis ihres Ehemannes einem Beruf nachgehen durften. Und es geschah in einer Zeit, in der Menschen mit Behinderung noch viel mehr Einschränkungen und Vorurteilen begegneten als heute. So galt eine Krankheit wie die Kinderlähmung laut unserer Autorin damals in dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem Magarete aufwuchs, als eine von Gott gesandte Strafe:
„Auch wenn die Ergebung in Gottes Willen eine der Hauptforderungen des Pietismus war und die Krankheit als eine von Gott gesandte Strafe für die Sündhaftigkeit der Menschen galt – gewissermaßen eine Lektion göttlicher Pädagogik, die der Läuterung dienen sollte – war eine ärztliche Behandlung erlaubt.“
S. 53.

Nachdem wir nun wissen, was der Pietismus mit unserem heutigen Buch zu tun hat, ist nun die Zeit gekommen, endlich zum Lexikon zu greifen und mehr über diesen Begriff zu erfahren.
Was das Lexikon sagt
Unser Lexikon kennt den Begriff und verrät uns, dass dieser tatsächlich vom gleichen lateinischen Wort wie der Begriff pietätlos abstammt. Da der Lexikoneintrag zu unserem heutigen Thema ungewöhnlich lang ist, zitiere ich heute nur jene Teile, die mir für die Beantwortung unserer heutigen Frage wirklich wichtig erscheinen.
Pi|etismus [lat. pietas »Frömmigkeit«] der, im 17. Jh. einsetzenden Bewegung innerhalb des Protestantismus, die eine geist. Erneuerung der Kirche zum Ziel hatte. Gegen die einseitig auf die Lehre ausgerichtete evang. Theologie betonte der P. das Ideal eines an der Bibel orientierten prakt. Christentums, das sich in lebendiger (Christus-)Frömmigkeit und tätiger Nächstenliebe äußert und seine Grundlagen im regelmäßigen Bibelstudium und der individuellen »Wiedergeburt« (Bekehrung) hat. […] Die Anhänger wurden spöttisch Pietisten (»Frömmler«) genannt. Zentren des P. bestanden in Halle (A.H. Francke), Württemberg […] und am Niederrhein […] Der P. prägte nachhaltig die gesellschaftli., polit. und pädagog. Entwicklung im Dtl. des 18. Jh.
Das Zeit Lexikon. Mit dem Besten aus der Zeit, Band 11, S. 351f.
Unser Lexikon verrät uns, dass es Zentren des Pietismus gab. Hinter jedem Zentrum stehen Namen (die ich nicht alle zitiert habe), wodurch ich vermute, dass jeder dieser Namen dem Pietismus in seiner Region einen etwas anderen Stempel aufdrückte. Magarete lebte in einer Kleinstadt der Schwäbischen Ostalb, daher werden wir das Internet nun fragen, wie genau der Pietismus in ihrer Region aussah.
Was das Internet sagt
Auf YouTube gibt es ein knapp 30 Minuten langes Video, das den schwäbischen Pietismus thematisiert. Ich habe es mir angeschaut und würde es wie folgt in wenigen Sätzen zusammenfassen:
- Die Region litt unter den Folgen von Auseinandersetzungen wie dem dreißigjährigem Krieg. Der Württembergische Hof machte sich darüber jedoch keine Gedanken und lebte auch in der schweren Zeit in Saus und Braus und sorgte so dafür, dass die Bevölkerung, die den Luxus des Hofes finanzieren musste, immer mehr verarmte.
- Ein wichtiger Grund für den starken Pietismus in der Region ist das Generalrescript von 1743, das der Bevölkerung private Bibelstunden erlaubte unter der Bedingung, dass dennoch der sonntägliche Gottesdienst in der Kirche besucht wurde.
- Viele schwäbische Pietisten glaub(t)en an die Allversöhnung, die besagt, dass Gott am Ende allen Menschen, nicht nur den förmigen Pietisten, vergeben werde.
Fazit
Dank unserer Recherche kann ich nun mehr mit dem Begriff Pietismus anfangen. Dank dem YouTube Video, das ich mir angesehen habe, verstehe ich nun endlich auch, woher der schwäbische Fleiß und die sprichwörtliche Sparsamkeit der Schwaben kommen könnten. Die Menschen in der Region haben erlebt, wie die Verschwendung am Hof zur Verarmung der Bevölkerung führte. Daraus zogen sie wahrscheinlich die Lehre, alles beisammenzuhalten und fleißig zu arbeiten, damit niemand in Armut leben muss.
Ich mag mir nicht vorstellen, wie ein Leben in einem Umfeld ist, in dem Du ohne Dein Verschulden schwer erkrankst und Dein Umfeld Deine Krankheit für eine von Gott gesandte Strafe hält. Gerade bei Magarete, die vor ihrem fünften Lebensjahr erkrankte, finde ich diesen Gedanken absurd und mag mir nicht vorstellen, wie manch einer in ihrem Umfeld über sie geurteilt hat.
An dieser Stelle bin ich froh, dass ich in einer Zeit lebe, in dem ich persönlich niemanden kenne, der mir gegenüber schon einmal gesagt hat, dass ein unschuldiges Kind krank ist, weil Gott es oder seine Familie bestrafen will. Ich freue mich in einer Zeit zu leben, in der eine immer bessere Infrastruktur entsteht, die Menschen mit Behinderung ein immer normaleres Leben ermöglicht. An dieser Stelle ziehe ich den Hut vor verrückten Twitterern wie @DerFrankyman und der @ZauberBaerin, die der Öffentlichkeit zeigen, wo wir als Gesellschaft in Sachen Barrierefreiheit noch viel Luft nach oben haben und dabei lediglich kleine Fortschritte erreichen. Das nährt in mir die Hoffnung, dass irgendwann der Tag kommen wird, an dem eine Behinderung in etwa so relevant ist wie eine Haarfarbe und Menschen mit Behinderung ein völlig normales Leben führen können.
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Das Buch, das diesen Beitrag inspiriert hat, habe ich als Rezensionsexemplar vom Verlag erhalten. Das bedeutet, ich habe das Buch kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, um darüber zu schreiben.
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